Mittwoch, 10. Dezember 2014

Märchen und Archäologie II: AaTh 301


In vorherigen Blogposts habe ich ein Interpretationsmodell bronzezeitlicher Ikonographie Skandinaviens quantitativ analysiert und die Möglichkeit extrinsischer Evaluation durch moderne Märchen eruiert. Die Ergebnisse sind grundsätzlich ermutigend, das digital frei verfügbare Korpusmaterial ist jedoch quantitiv unzureichend, um zu endgültigen Befunden zu kommen. Hier nun ein alternativer Ansatz: Auf Basis bestehender Merkmalsanalysen von Märchen (die z.T. in größerem Umfang digital verfügbar sind als die zugrundeliegenden Primärquellen selbst) führe ich eine quantitative Analyse zweiter Ordnung durch, d.h., die quantitative Auswertung über bestehende qualitative Analysen hinweg. (Vergleichsweise) Innovativ dabei ist die Verwendung statistischer Signifikanzkriterien.

1. Sujet-Analyse: Vom Korpus zu AaTh 301

Sujets im Märchen werden traditionell nach dem Aarne-Thompson-Index (AaTh) klassifiziert, einem ursprünglich von Antti Aarne entwickelten und von Stith Thompson bzw. Hans Uther ausgebauten Katalog der Märchensujets von zunächst Finnland, Dänemark und Deutschland (Aarne 1910), dann Albanien, Griechenland, Russland, und Sizilien (Aarne 1912), später weiterer europäischer und außereuropäischer Kulturen. Eine stichprobenartige Prüfung der Ergebnisse der Korpusstudie ergab, dass, wenn sich die AaTh-Nummer leicht identifizieren ließ (das galt v.a. für Grimms Kinder- und Hausmärchen, Hahns Griechische und Albanesische Märchen sowie Gonzenbachs Sizilianische Märchen, die in hochwertiger Edition über zeno.org verfügbar und in Aarne 1912 verzeichnet sind), diese mehrheitlich AaTh 301 zugeordnet war, den "Verschwundenen drei Prinzessinnen" (AaTh 301A) bzw. dem "Bärensohnmotiv" (AaTh 301B):
301. Die drei geraubten Prinzessinnen:
A. Männer gehen auf die Suche nach den verschwundenen Prinzessinnen; kochen abwechselnd das Essen; Episode mit dem Zwerg; einer der Männer durch ein Loch unter die Erde und rettet die Prinzessinnen (vom Drachen u. a., vgl. No. 300); die Gefährten ziehen ihn nicht wieder empor, aber er rettet sich schliesslich (Grimm No. 91, Gg No. 5 A).
B. Dasselbe, vorher als Einleitung: Der starke Junge und seine starken Gefährten (Tannendreher, Felsenklipperer) (Der starke Junge, siehe No. 650) (Grimm No. 166, Gg No. 5 B).
 (Aarne 1910, S.11f.)
Bemerkenswert an diesem Motiv ist, dass es nicht nur Adler und Drache involviert (s.u.), sondern diese auch explizit in den Kontext einer Unterweltsfahrt stellt, also in besonderem Maße mit unserer Fragestellung in Bezug setzt, und einen Verbreitungsschwerpunkt in Europa besitzt. AaTh 301 ist darüber hinaus in weiten Teilen Afrikas und Asiens verbreitet, fehlt allerdings im pazifischen Raum und Südostasien weitgehend, und ist in Nordamerika, Südamerika und dem subsaharischen Afrika nur sporadisch belegt (vgl. hierzu die Karte der Belege und Nicht-Belege in Artem Kozmins Digital Folklore Index).

2. Sujet-Analyse: Materialgrundlage


Beide Varianten werden in der älteren Literatur und jenseits der eigentlichen Folkloreforschung auch mit ihrer Nummer bei Grimm als KHM 91 ("Dat Erdmänneken", AaTh 301A, hochdeutsch auf Hekaya) bzw. KHM 166 ("Der starke Hans", AaTh 301B) bekannt, und auf diese bezieht sich auch das hier betrachtete Material. Als Materialgrundlage für die folgende Untersuchung verwende ich Bolte und Polivka (1913, im folgenden BP) Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm (Band 2), die die meisten damals bekannten Fassungen von KHM 91 (und 166) in ihrer Variationsbreite analysieren, sowie die wesentlich detailliertere Analyse von Panzer (1910, im folgenden P) zum Bärensohnmotiv als möglicher Grundlage des Beowulf-Epos. Beide Arbeiten listen für ihre jeweilige Klassifikation der Handlungsmotive die entsprechenden Varianten und deren Ausformung auf, wobei P bei weitem detaillierter, allerdings auch selektiver ist. Insgesamt listet BP 337 und P 201 Varianten, wobei P auch Untervarianten mitzählt, die bei BP mit der Hauptvariante zusammengefasst werden. Die meisten BP- und P-Einträge können i.a. leicht miteinander identifiziert werden, leider gilt dies nicht für die russischen Märchen aus Afanasiews umfangreichem Bestand, die daher doppelt gelistet sind.
Ich habe aus beiden Arbeiten sowie wenige ausgewählte Märchen meiner eigenen Bibliothek (u.a., ein englisches, ein isländisches) Merkmalsvektoren für die jeweiligen Variantenmerkmale digitalisiert, und damit einen Gesamtbestand von 416 Varianten erfasst, d.h., ca. 2/3 der insgesamt existierenden Belegmaterials. Aufgrund teilweise unzureichender Information handelt es sich dabei jedoch i.d.R. um unterspezifizierte Vektoren, nicht für jedes Merkmal sind Informationen vohanden, so dass die folgende Auswertung sich in ihrer Grundgesamtheit jeweils nur auf die Varianten bezieht, für die Information zu einem gegebenen Merkmal verfügbar sind.

3. Merkmals- und Verteilungsanalyse

Mit diesen Grunddaten sind nun sehr rasch elementare Fragen zum Sujet zu beantworten.

3.1 Wo spielt das Märchen ?

Nicht immer wird das Geschehen ausdrücklich in die Anderswelt versetzt, doch i.d.R. findet ein Ab- oder Aufstieg statt, und oftmals wird explizit von oberirdischer oder unterirdischer Welt gesprochen.

Tab. 1: Ober- vs. Unterweltsfahrten in AaTh 301 (v.a. nach P [Panzer 1910])


Tab. 1 fasst die Ergebnisse hierzu zusammen. Berücksichtigt wurden hier nur Bewegungen in der Vertikalen, oftmals spielt in den Erzählungen aber auch die Überwindung von Wasser eine besondere Bedeutung, entweder als Fluß oder als Meer, was sich dann mit historisierenden Erzählungen verbinden kann, in denen das Motiv in den historischen Kontext eines Kreuzzugs verbindet (etwa in Huon de Bordeaux oder dem skandinavischen Lunkentus-Volksbuch). Diese wurden hier nicht berücksichtigt.
Es zeigt sich, dass im Gesamtbefund Unterweltsfahrten statistisch hoch signifikant überwiegen, wobei der Vordere Orient, Indien, und Eurasien aufgrund geringer Belegdichte jedoch nur schwach oder nicht signifikante Ergebnisse liefern, sich in Osteuropa hingegen eine systematisch andere Verteilung abzeichnet. Interessant in diesem Zusammenhang ist einer wenigen klaren Belege für eine Oberweltsfahrt, die eine Reise in ein fliegendes Schloß beschreibt und aus Serbien stammt. Das deutet möglicherweise darauf hin, dass die Idee einer Unterweltsfahrt in Südost- und Osteuropa weniger stark verankert ist und das Motiv sich hier auf Oberweltsfahrten ausgedehnt hat.
Dem gegenüber sind die Motive vom Typ "Höhle auf/im Berg" wahrscheinlich eher als klassische Unterweltsfahrten anzusprechen, wobei die Lokalisierung "auf dem Berg", insbesondere "auf dem höchsten Berg", lediglich unterstreicht, dass man sich hier an einem wirklich andersweltlichen Ort befindet, der normalerweise unzugänglich ist. Fahrten mit Ziel "auf dem Berg", jedoch ohne Höhle (wie fast aus dem gesamten Befundgebiet - allerdings nur schwach - belegt) können teilweise wohl als Vereinfachung des "Höhle auf/im Berg"-Motivs gelten. Um so mehr sticht das serbische Märchen heraus, für dessen fliegendes Schloß eine solche Erklärung ausscheidet.
Für Mittel- und Nordeuropa jedoch können wir festhalten, dass sich AT 301 durchgängig auf Unterweltsfahrten zurückführen lässt, und dies wohl auch einen ursprünglichen Zug des Märchens darstellt. 

3.2 Wer ist der primäre Antagonist ?

Nach dem Abstieg in den Brunnen, die Höhle oder die Unterwelt begegnet der Held in AT 301 einer oder mehreren Frauen, die von einem Unhold bewacht werden. Nach schweren Auseinandersetzungen wird dieser überwunden und die Frauen von den Gefährten des Helden an die Oberfläche gezogen. Die Märchen zeigen eine beträchtliche Bandbreite in der Charakterisierung dieses Unholds, dieser erscheint als Drache (Schlange), Riese, Zauberer oder Räuber, Hexe oder mythisches Ungeheuer (etwa Koshchej, ein ostslawischer Dämon mit etymologischem Bezug zu "Knochen", dessen Gestalt jedoch nicht als drachenhaft angegeben wird). Insgesamt überwiegen die drachenartigen Antagonisten jedoch stark.
Tab. 2: Antagonisten (frauenbewachende Unholde)

Tab. 2 fasst die Ergebnisse zusammen. Zunächst ist festzuhalten, dass mit 55% die absolute Mehrheit aller Unholde Drachen oder Drachenartige (Schlangen, mehrköpfiges Ungeheuer) sind, und sich auch keine geographischen Unterschiede zur mittleren Verteilung feststellen lassen, was darauf hindeutet, dass es sich dabei um ein ursprüngliches Element handelt. Eine zweite Großkategorie sind ebenfalls allgemein auftretende menschenartige Unholde, wo sich zumindest für Zauberer eine Konzentration in Südeuropa abzeichnet. Hier ist allerdings Vorsicht bei der Interpretation angebracht, denn die Kategorie des Zauberers ist nicht klar vom "sonstigen Unhold" unterscheidbar. Ähnlich gilt dies für Riesen. Wenn in Osteuropa Riesen signifikant selten erscheinen, dann kann dies beispeislweise darauf zurückgeführt werden, dass im ostslawischen Märchen die Figur des Koshchej sehr prominent auftritt, dem man Merkmale eines Riesen zuschreiben kann. Ein wesentlicher Unterschied gegenüber anonymisierten Riesen ist jedoch, dass Koshchej stark individualisiert auftritt. Panzer erklärte die Riesen als eine Erscheinungsform des Erdmännchens, der dem Helden und seinen Gefährten vor Eintritt in die Unterwelt erscheint, sie provoziert und ihnen (unfreiwillig) den Weg weist (in der Motivbeschreibung oben ist das "die Episode mit dem Zwerg"), eine Entwicklung, die mehrfach unabhängig aufgetreten sein kann. Dem gegenüber ist der Drache als Antagonist nicht weiter reduzierbar.
Der Teufel ist nicht klar als menschen- oder drachengestaltig klassifizierbar (man denke an die mit Satan identifizierte Schlange im Paradies oder den Erzengel Michael und seinen Kampf mit Luzifer), steht daher zwischen beiden Kategorien. Offensichtlich ist seine Einführung das Ergebnis später und christlicher Interpretation, und die statistisch signifikante Konzentration in Westeuropa belegt dies. Der weibliche Unhold wirkt in der Tabelle wie eine osteuropäisch-eurasische Sonderform des Riesen, tritt jedoch auch neben diesem (oder dem Drachen) auf und wird von Panzer auch im Beowulf (Grendels Mutter) ausgemacht. Folgt man seiner Interpretation, dann zeigt sich hier ein Schwundprozess des Motivs in den letzten tausend Jahren, wobei die osteuropäischen Belege archaische Elemente bewahrt hätten.
Für alle Einträge der Tabelle gilt, dass mehrere Unholde nebeneinander auftreten können. In besonderem Maße gilt das für die Gruppe der Tiere, die oft in Gruppen oder in Verbindung mit anderen Unholden erscheinen. Die katzenartigen (Löwen, Tiger, Leoparden) zeigen (wie der Teufel) eine Konzentration in Westeuropa. Es ist gut vorstellbar, dass das heraldische Tier während des Mittelalters oder im Ergebnis der Kreuzzüge (es ist ja auch im Orient in dieser Rolle belegt) in den Vordergrund trat. Konkret anzunehmen ist hier ein Einfluss von Hartmann von Aues Iwein (um 1200) und letztlich Chrétien de Troyes' Yvain (um 1185), dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass der Löwe auch als Helfer als Reittier auftritt (unten nicht aufgenommen ist Bechsteins Sage vom Falkensteiner Ritt, in der der Antagonist allerdings fehlt). Sollte sich diese Verbindung weiter erhärten lassen, wäre der Löwe allerdings ursprünglich als Helfer anzusehen und dann in eine andere Funktionsgruppe übergetreten. Wenn der frauenbewachende Löwe in Mittel- und Osteuropa durch einen Bären ersetzt scheint, kann es sich dabei auch um eine regionsspezifische Anpassung handeln, eventuell auch unter dem Eindruck des oft verwendeten Bärensohnmotivs der Eingangsformel, so dass hier eventuell ebenfalls Angleichungen stattgefunden haben. Den Adler in derselben Rolle anzutreffen (wenn auch nur mit marginaler Häufigkeit), kann ebenfalls das Ergebnis einer Angleichung sein, in diesem Fall mit Akteuren des weiteren Handlungsverlaufs. Interessant ist hier sein Auftreten in geographisch weit getrennten Räumen, was unabhängige Entwicklungen nahelegt. Dass es sich bei dem fraglichen Vogel um einen Adler handelt, ist in diesem Zusammenhang ein starkes Argument, da diese auch im weiteren Verlauf sehr prominent erscheinen. (Der einzige andere in dieser Rolle genannte mögliche Vogel in den Daten ist ein ostslawischer Unhold mit dem Namen Voron Voronovich, den "Raben Rabensohn", dessen Vogelgestalt bei Panzer aber nicht explizit angesprochen wird.)
Es ist nicht ohne Weiteres möglich, die Signifikanz des Auftretens von Drachen in dieser Rolle zu ermessen, da eine klar definierte Grundgesamtheit fehlt (und wir so nur mit dem durchschnittlichen Auftreten in dieser Rolle vergleichen können), und die Gruppe der menschenartigen Unholde zu heterogen für einen realistischen Vergleich auf dieser Ebene ist. Hier müssen wir uns damit begnügen, dass sie flächendeckend in dieser Rolle auftreten und die Mehrheit aller Unholde in AaTh 301 stellen, in einem Maße, dass konstituierend für das Motiv ist (siehe Aarnes Beschreibung oben).

3.3  Wie gelangt der Held zurück ?

AT 301 zeigt fast durchweg das Motiv der treulosen Gefährten, oft der Brüder des Helden, die nach dessen erfolgreichen Drachenkampf zwar dessen Beute, insbesondere die befreiten Prinzessinnen, ans Tageslicht holen, ihn selbst jedoch zurücklassen. Damit stellt sich für ihn das Problem, an die Oberfläche zurückzugelangen, und gerade in diesem Zusammenhang begegnen systematisch Raubvögel als Helfer.

Abb. 3: Rückkehr von der Unterweltsfahrt.

Abb. 3 zeigt die Verteilung der dabei zum Zuge kommenden Helfer oder Hilfsmittel. In nahezu 50% aller Fälle wird der Protagonist von einem Vogel getragen, wobei sich im gesamten Gebiet keine statistisch signifikanten Unterschiede in der Verteilung zeigen. Es kann sich daher hierbei um ein grundlegendes Merkmal handeln. Die zweithäufigste Gruppe ist die der hilfreichen Geister, die in einem Drittel aller Fälle auftritt. Beide Gruppen, die zusammen mehr als 2/3 aller Belege dominieren, werden in Abb. 4 detaillierter aufgeschlüsselt.
Neben Geistern und Vögeln hilft zum Teil auch der Unhold selbst beim Aufstieg, zumindest wenn er nicht getötet wurde. Diese Fälle, wie auch die folgenden, sind zu selten belegt, um statistisch signifikante Verteilungsunterschiede zu belegen. Interessant ist allerdings die Verteilung: In Nord- und Südeuropa scheint es sich eher um einen weiblichen Unhold (bzw. Hexe) zu handeln, in Ost- und Südosteuropa eher um einen männlichen (bzw. einen Drachen), während Mitteleuropa beides kennt. Dies deutet ein geographisches Muster an, jedoch nicht signifikant. Allerdings kann es sich hier auch um unabhängige Vereinfachungen des ursprünglichen Motivs handeln, in dem ein Protagonist (der Aufstiegshelfer) mit einem anderen (dem Unhold) identifiziert wurde. Dies scheint unabhängig davon auch beim Erdmann (dem Zwerg, der den Helden widerwillig in die Unterwelt führt) geschehen zu sein, siehe dazu Abb. 4.
Eine vierte Gruppe sind die Tiere. Auch hier ist der Drache eventuell sekundär aus der Rolle des Unholds übertragen worden, wobei allerdings auffällt, dass er in 2/3 dieser Märchen nicht mit dem Unhold identifiziert wird. Dass ansonsten übernatürliche Pferde eine Rolle spielen, passt gut zur Kauls Sonnenzyklus, in dem das Sonnenpferd eine wichtige Rolle einnimmt (wenn auch eher im Tagesteil). Die geographische Verteilung legt einen Schwerpunkt in Ost- und Südosteuropa nahe, womit vielleicht das Motiv des antiken Pegasus nachwirkt. Der Widder ist insofern interessant, als dass er eine besondere Rolle in (v.a.) orientalischen Varianten von AaTh 301 spielt, in denen der Held nach Bezwingung des Unholds durch einen Widder in eine noch tiefere Unterwelt (statt an die Oberfläche) getragen wird, in der der Held dann einen zweiten Drachenkampf nach AaTh 300 erlebt. Dieses Teilmotiv habe ich hier nicht aufgeschlüsselt, da es in Mittel- und Nordeuropa praktisch unbekannt ist. Auch hier erscheint also eine Übertragung des transportierenden Tieres aus einer anderen Rolle denkbar. Andere Tiere sind phantastische oder heraldische Tiere, sowie der einmalig belegte Fuchs aus Mitteleuropa. Bei letzterem ist allerdings anzunehmen, dass sich dahinter eigentlich ein Pferd mit rötlichem Fell verbirgt.
Das Motiv der Pflanze ist interessant, da es in seiner klassischen Form, wonach der Held an einem Baum emporklettert oder sich von diesem herausschnellen oder an diesem herausziehen lässt, nur im Osten vertreten ist, während es im Westen vollkommen fehlt. Tatsächlich gibt es hier die Variante, dass der Held das Nest des Raubvogels erst erreicht, nachdem er einen hohen Baum hinaufgeklettert ist. In dieser reduzierten, vogel-freien Form handelt es sich jedoch um eine geographisch klar lokalisierbare Variante, was auf eine regionale Sonderform hindeutet. Bei der derzeitigen Belegsituation ist dies jedoch nicht statistisch signifikant. Eventuell handelt es sich hierbei um einen archaischen Zug, denn wenngleich der Westen den Baum in dieser Rolle nicht kennt, so kennt er doch die Nutzung von Früchten (Äpfeln) als magisches Mittel zum Aufstieg (ähnlich dem Ring, der Flöte oder dem -- hier nicht aufgenommenen -- Zauberstab).
Die maximal reduzierte Version ist natürlich die Variante, dass der Held hinaufgezogen wird (entweder durch einen Helfer oder durch die -- dann nicht treulosen -- Gefährten), bzw. selbst klettert oder läuft. Letztere Version ist nicht immer klar von den magischen Helfern (siehe Geist in Abb.4) zu unterscheiden, da diese dem Held ggf. eine Treppe oder einen Tunnel bauen.
So verbleiben für Mittel- und Nordeuropa zwei Hauptgruppen, die sich nicht ohne weiteres auf andere Protagonisten reduzieren oder als Vereinfachung erklären lassen: Vögel und Geister. Zu diesen sind noch das Pferd und die Pflanze zu rechnen, wobei ersteres nur selten belegt ist und letzteres einen klaren Verbreitungsschwerpunkt außerhalb Nord- und Mitteleuropas besitzt und damit vor dem Hintergrund der ursprünglichen Fragestellung ausscheidet.

Abb. 4: Magische Helfer: Details für "Vogel" und "Geist".
Abb. 4 analysiert die Gruppen "Vogel" und "Geist". Bezüglich der Vögel ist eine wichtige Feststellung, dass diese sich mehrheitlich als Raubvögel darstellen, insbesondere Adler und mythische Vögel mit Aspekten von Adlern. Innerhalb der Gruppe der Vögel gibt es eine statistisch signifikante Häufung von Adlern in Südeuropa. Das marginal signifikante Fehlen von Adlern in Osteuropa bedeutet an dieser Stelle übrigens nicht, dass man dort an einen anderen Vogel gedacht hätte, vielmehr wird dies hier oft nicht expliziert und nur von "einem Vogel" gesprochen. Auch hier ist aber primär an einen Raubvogel zu denken, da der Held den Vogel in östlichen Varianten oft mit Fleisch füttern muss. Aufgrund der Häufigkeit und der gleichmäßigen Verteilung ist davon auszugehen, dass es sich beim Vogelflug um einen ursprünglichen Zug des Märchens handelt und dass dieser Vogel durchgängig Aspekte eines Raubvogels trägt.
Im Vergleich dazu scheint die Gruppe der Geister heterogener zu sein. Zunächst tritt oft der Erdmann, der Zwerg, der den Helden widerwillig in die Unterwelt geführt hat, auf, der dann auch wieder beim Aufstieg assistiert. Dies ist eventuell eine Analogiebildung zum Abstieg und damit sekundär. Häufig jedoch handelt es sich um andere Geister, die beim Aufstieg helfen, oft anonyme Geister, die entweder durch einen (gefundenen, vom Erdmann oder dem Unhold geraubten) Ring oder durch Pfeifen (mit einer gefundenen, oder dem Erdmann oder dem Unhold gehörenden Pfeife oder Flöte) gerufen werden. Sofern der Erdmann selbst pfeift, habe ich dabei beide als Aufstiegshelfer gewertet.
Diese Geister zeigen eine marginal signifikante Häufung in Mitteleuropa und für West- und Nordwesteuropa scheint ihre Identifikation mit dem Erdmann ohne Ausnahmen zu sein. Dies ist ein interessantes Detail, weil es einen direkten Anschluss an Motive mittelalterlicher Heldenromane und frühneuzeitlicher Volksbücher gestattet, insbesondere Huon de Bordeaux, Ortnid und den Hürnen Seyfrid, die darin übereinstimmen, dass der Held vor einem Kampf gegen Drachen oder Riesen (zwecks Befreiung einer Jungfrau) dem Zwerg Alberich (bzw. dessen französischem Pendant Alberon) begegnet, der ihn zunächst provoziert bzw. mit denen er kämpft, die ihm dann jedoch bei jeder Gelegenheit helfend zur Seite stehen. Huon kennt hierzu das Detail der Flöte, mit der der Zwerg gerufen werden muss. Ihre Fortsetzung fanden diese mittelalterlichen Stoffe in frühneuzeitlichen Volksbüchern, die enorme Publikumswirkung entfalteten und Märchenstoffe nachhaltig geprägt haben. Im deutschen Raum gilt dies für den Hürnen Seyfrid, in Skandinavien für den Lunkentus, der Ende des 18.Jh. zunächst auf Schwedisch erschien und dessen eponymer Held (der helfende Geist) seinen Namen in einem Großteil der erfassten Märchen in diesem Raum hinterlassen hat (in BP identifizierbar sind zwei dänische Varianten, zwei schwedische und eine norwegische von insgesamt 15 dänischen, 5 schwedischen und 2 norwegischen bei BP). Der Lunkentus baut wohl auf einheimischen Motiven auf und ist damit ein früher Beleg für die Kenntnis und die Beliebtheit von AaTh 301 in Skandinavien, verbindet diese aber mit der Kreuzzugsatmosphäre von Ortnid und Huon und ist daher womöglich direkt von diesen inspiriert. Ein anderes Beispiel für eine Inspiration aus der mittelalterlichen Heldenepik ist ein polnisches Märchen, in dem der Held auf einem helfenden Löwen zurückfliegt. Dass der Löwe den Raubvogel ersetzt, kann dabei durchaus als ein Echo von Chrétien de Troyes' Yvain bzw. Hartmann von Aues Iwein gesehen werden.
Akzeptieren wir einen Einfluss der Heldenepik und der z.T. darauf aufbauenden Volksbücher auf die modernen Formen des Märchens, so erklärt dies nicht nur die west- und mitteleuropäische Konzentration der Erdmann-Variante des Geistermotivs, sondern auch das statistisch marginal signifikante Fehlen dieses Zuges in Osteuropa. Schon aufgrund dieser klar erkennbaren Verteilungsunterschiede erweist sich der Zug des helfenden Geistes als sekundär. Das Vogelmotiv hingegen ist auch in Europa gleichmäßig belegt, was darauf hindeutet, dass es gegenüber dem Geistermotiv ursprünglicher ist.
Zusammengefasst bestätigt sich damit der Vogelflug als ein wahrscheinlich ursprüngliches Element des Märchens. Wir können damit für in Europa belegte Züge des Märchens prototypische und sekundäre Ausformungen unterscheiden.

3.4 Zusammenfassung

Bezogen auf die drei hier angesprochenen Aspekte des Märchens können wir damit für dessen ursprüngliche Gestalt in Mittel- und Nordeuropa festhalten:
  1. es handelt sich um eine Unterweltsreise mit Abstieg durch eine Höhle (§3.1)
  2. der Held wird von einem Erdmann (widerwillig) dorthin geführt (die Voraussetzung für das Geistermotiv in §3.3)
  3. er begegnet dort einem Drachen (der menschenähnliche männliche Unhold ist eventuell durch Einfluss des Erdmannes sekundär entstanden, §3.2), dem er Frau und/oder Schatz raubt
  4. er kehrt auf dem Rücken eines Raubvogels zurück an die Oberfläche (das jüngere westliche Geistermotiv ist unter Einfluss höfischer Dichtung sekundär aus dem Erdmann ableitbar, §3.3)
Diese Struktur entspricht -- selbst wenn der Verlauf des bronzezeitlichen Mythos anders gewesen sein sollte -- präzise den Voraussagen von Kauls Modell: Wir begegnen einer Schlange (Drachen) nach/bei Eintritt in die Unterwelt und einem Raubvogel bei Verlassen derselben. Statistisch abgesichert ist, dass es sich um eine Unterweltsreise handelt, und dass der Drache und der Raubvogel ursprüngliche und konstituierende Komponenten des Märchens darstellen, da sie sich (trotz vergleichsweise großer Häufigkeit) in ihrer geographischen Verteilung nicht signifikant vom Mittel unterscheiden.
Aus dieser Rekonstruktion heraus können wir auch eine Datierung von AaTh 301 in Mittel- und Nordeuropa vornehmen: Da das Motiv bereits vor der Beeinflussung durch die höfische Dichtung existiert haben muss, um von dieser (teilweise) überformt zu werden, muss es vorher etabliert gewesen sein. Huon und Ortnid stammen aus dem 12.Jh., der Hürnen Seyfrid soll auf Vorbilder aus ähnlicher Zeit zurückgehen, nicht zuletzt auch das Nibelungenlied. Wenn diese Motive in der höfischen Dichtung des 12.Jh. so populär waren, dass sie Eingang in unabhängige Dichtungen gefunden haben, sich aber erst nach deren Abschluss in die Folklore ausbreiteten, ist davon auszugehen, dass die ältere Form von AaTh 301 zur Entstehungszeit dieser Dichtungen bereits verbreitet und fest etabliert gewesen ist. In der Tat ist es eine These von Panzer, der argumentiert, dass AaTh 301 nicht nur Einflüsse dieser Dichtungen aufgenommen hat, sondern die Grundlage für den Hürnen Seyfrid darstellt (Panzer 1912), darüber hinaus jedoch auch die des altenglischen Beowulf (Panzer 1910). Diese Thesen waren einflussreich, sind jedoch nicht unkontrovers. Die Frage der zeitlichen Tiefe des Motivs sei an dieser Stelle auf einen Nachfolge-Post verschoben ;)

4. Methodische Überlegungen

Die oben beschriebenen quantitativen Untersuchungen bestätigen die aus Kaul (1998) vorausgesagte Verteilung von Raubvogel und Schlange in Unterweltsreisen für moderne Märchen. Die Ergebnisse sind jedoch zunächst nur unter Vorbehalt zu gebrauchen, insbesondere bei der Sujet-Analyse, da ich hier auf Altdaten (BP,P) zurückgreifen musste, die ich im Einzelfall nicht überprüfen konnte und die sogar vereinzelt erkennbar fehlerhaft waren:
  • Ein generelles Problem bei BP-Daten besteht darin, dass Detailinformationen fehlen. Vermerkt sind dort nur Charakteristika auf hohem Abstraktionsniveau, die nur bei Abweichungen von der Norm ausbuchstabiert zu werden scheinen, jedoch auch nicht immer. Insbesondere gilt dies für Rückkehr mittels Vogel bzw. Geist, die nur für Südosteuropa, Osteuropa und Eurasien ausgezeichnet wurden. Hier bleibt also vieles vage. 
  • Die P-Daten dagegen haben das Problem, dass dem Verfasser bereits vor dem Druck einige Belege durcheinander geraten scheinen. Panzer erwähnt selbst in einigen Fußnoten, dass vereinzelt die Belegnummern verloren gegangen sind. Andere Belege sind wahrscheinlich falsch, etwa wenn Merkmale für ein Märchen doppelt definiert werden oder der Unhold eines bosnischen Märchens als Dew bezeichnet wird, was eher auf den Vorderen Orient verweist. 
Sofern so deutlich erkennbar, habe ich fehlerhafte Information nicht übernommen, dass es jedoch weniger auffällige Fehler gibt, ist nicht auszuschließen. Insofern sind sämtliche Analysen gegen das Originalmaterial zu prüfen. Dessen ungeachtet können wir für statistisch signifikante Befunde davon ausgehen, dass zufallsinduziertes Rauschen die generellen Beobachtungen nicht berührt.

Insofern bestätigen die Daten von Panzer (1910) und Bolte-Polivka (1913) die Verteilungshypothese von Kauls Sonnenzyklus ebenso wie die Korpusanalyse. Beide Ergebnisse sind mit Signifikanzmaßen abgesichert, noch immer ist dieser Befund jedoch mit Vorsicht zu betrachten, denn
  1. Die Korpusdaten waren gering und unsauber, sie enthielten Kunst- und literarisch ausgeformte Märchen, die ein zusätzliches Rauschen in die Daten induzierten.
  2. Die Analyse von AaTh 301 und verwandten Märchen ist nur eine Metaanalyse, die Grundgesamtheit ist durch P und BP vorgegeben, ist aber selbst nur eine gezielte Auswahl aus einer viel größeren Menge von Material darstellt. Es ist nicht auszuschließen, dass weitere Märchen von Adler und Drachen existieren, die deswegen nicht von beiden aufgenommen wurden, weil sie die kanonische Reihenfolge verletzen. Allerdings spricht die Tatsache, dass dänische und deutsche Märchen eine wesentliche Rolle bei der Etablierung des Motivkalatogs gespielt haben, dafür, dass es sich dabei um seltene oder sekundäre Varianten handelt, da sie andernfalls als eigenständige Motive oder Varianten zu AaTh 301 aufgenommen worden wären.
  3. Die historische Tiefe von AaTh 301 ist für den mittel- und nordeuropäischen Raum bislang unklar. Das Märchen selbst kann mit obigen Überlegungen etwa bis ins 12.Jh. zurückprojiziert werden, ist jedoch sehr weit verbreitet; eine Entlehnung, etwa im Zuge der Kreuzzüge aus dem Orient, ist daher nicht auszuschließen. Panzers These, früh- und hochmittelalterliche Dichtungen auf AaTh 301 zurückzuführen, impliziert wenig über unsere Fragestellung, denn diesen Dichtungen (Huon, Ortnit, Seyfrid, Beowulf) fehlt durchgängig das Motiv des Adlerflugs.
Punkt 3 erfordert weitere Beschäftigung mit dem Thema. Zu Punkt 1 ist zu bemerken, dass die Zukunft derartiger Studien nur mit größeren und besser ausgezeichneten Korpora möglich ist, zu Punkt 2 gilt ähnliches. Idealerweise sollten Merkmalsanalysen wie hier beschrieben, nicht auf einer manuell erstellten Vorauswahl, sondern unmittelbar auf Korpora von Märchen ausgeführt werden. Dies ist natürlich nur zu bewerkstelligen, wenn die entsprechenden Merkmalsannotationen automatisiert werden können ... Viel Raum für Forschung ... und eigentlich macht das die Sache erst interessant, weil es den technischen Anspruch nach oben schraubt: Computational Linguistics goes Digital Humanities ;)

5. Vorläufige Ergebnisse

Weitere Evidenz für Kaul. Zeitliche und geographische Kontinuität aber (noch) nicht gesichert. Gelingt dies, erreichen wir möglicherweise noch mehr: Die direkte Verbindung bronzezeitlicher Ikonographie mit schriftlicher Überlieferung. Wenn sich diese erhärten lässt, gestattet das eventuell einen noch tieferen Einblick in die Geisteswelt der Bronzezeit. Methoden der Computerlinguistik können für diesen Brückenschlag eine Schlüsselrolle spielen.


Referenzen

Antti Aarne (1910), Verzeichnis der Märchentypen. FFC 3. Helsinki: Suomalaisen Tiedeakatemian Toimituksia.
Antti Aarne (1912), Übersicht der mit dem Verzeichnis der Märchentypen in den Sammlungen Grimms, Grundtvigs, Afanasjews, Gonzenbachs und Hahns übereinstimmenden Märchen. FFC 10. Helsinki: Suomalaisen Tiedeakatemian Kustantama.
Johannes Bolte, Georg Polivka (1913), Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm Band 2, Dieterischsche Verlagsbuchhandlung, Leipzig.
Flemming Kaul (1998), Ships on Bronzes. A Study in Bronze Age Religion and Iconography. Studies in Archeology & History 3(1&2), PNM (Publications from the National Museum), Copenhagen.
Friedrich Panzer (1910), Studien zur germanischen Sagengeschichte, Band 1: Beowulf. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München.
Friedrich Panzer (1912), Studien zur germanischen Sagengeschichte. Band 2. Sigfrid. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München.

Dienstag, 2. Dezember 2014

Märchen und Archäologie I: Korpusstudie


Mein Blogpost zur Ikonographie bronzezeitlicher Rasiermesser aus Dänemark führte ja im wesentlichen zu dem Ergebnis, dass das von Flemming Kaul vorgeschlagene Modell einer Sonnenreise grundsätzlich plausibel und einleuchtend erscheint, jedoch ohne extrinsische Evaluation in seinen Details in weiten Teilen als spekulativ angesprochen werden muss. Eine solche extrinsische Evaluation soll hier in Grundzügen skizziert werden.

1. Möglichkeiten zur extrinsischen Evaluation

Kaul (1998) selbst ist sich des Problems durchaus bewusst und skizziert Möglichkeiten einer solchen Evaluation durch Erweiterung des geographischen Raumes (§12.2) sowie Vergleich mit zentraleuropäischen (§12.3), italienischen (§12.4) und ägyptischen Befunden (§12.5). Obwohl er zu Recht Ansätze ablehnt, Glaubensvorstellungen späterer Zeit (v.a. der Edda) oder anderer kultureller Sphären (etwa des bronzezeitlichen Syriens oder Ägyptens) zur Grundlage einer Interpretation der Ikonographie der nordischen Bronzezeit zu machen (§2.1), sind diese für die Evaluation eines unabhängig formulierten Modells durchaus geeignet. Kritische Detailstudien lassen hier allerdings eher Skepsis vermuten. Bezogen auf eddische Überlieferungen schließt Schier (1992, nach Kaul 1998, S.12) "... so scheint es (...) kaum möglich zu sein, direkte Zusammenhänge zwischen Felsbildern und späteren germanischen Göttervorstellungen nachzuweisen." Unter Bezug auf Fett & Fett (1941, S.14) spekuliert Kaul (S.12) "... that some folk-tales might be able to present a better picture or idea of Bronze-Age mythic scenarios than can the codified Viking-Age mythology". Dies nun ist eine perfekte Motivation für den Einsatz quantitativer computer- und korpuslinguistischer Verfahren zur Prüfung einer solchen Hypothese.

2. Extrinsische Evaluation: Märchen

Das (Volks-)Märchen gilt als eine sehr alte Gattung mündlicher Literatur und ist wesentlich charakterisiert als Prosatext (im Gegensatz zum Lied) ohne Bezug an historische oder geographische Gegebenheiten (im Gegensatz zu Sage und Legende) oder aus einem größeren Überlieferungskontext heraus identifizierbare Akteure (im Gegensatz zu Sage, mündlichem Epos oder Mythos), meist unter Einbeziehung phantastischer Elemente.
Das Märchen kann dabei durchaus unterschiedlich interpretiert werden, u.a. als didaktisches Instrument, psychologisches Chiffre oder als Träger einer verschütteten mythologischen Bedeutung. Diese Sichtweisen müssen einander dabei durchaus nicht ausschließen. Gehen wir etwa von einer "Erfindung" des Märchens aus didaktischen Gründen aus, stellt sich oftmals die Frage nach dem Ursprung von Märchen ohne identifizierbare ethische Aussage. Gehen wir allein von psychologischen Motivationen aus, überrascht (v.a. im Vergleich zum Kunstmärchen) die Variantenarmut des Märchens, die sich auf wenige tausend Sujets reduzieren lässt, die oftmals noch geographische Verteilungsschwerpunkte besitzen. Als ausschließlicher Träger einer verschütteten mythologischen Bedeutung schließlich wäre das Märchen nicht überlebensfähig gewesen, ohne auch eine anderweitige soziale oder kulturelle Funktion zu erfüllen. Ich werde hier in Anschluss an die geographisch-historische Methode versuchen, mit empirischen Kriterien eventuelle Parallelen zwischen Kauls Modell und modernen Volksmärchen zu überprüfen. Damit sei allerdings keineswegs unterstellt, dass moderne Märchen (oder deren prähistorische Vorläufer) unmittelbar bronzezeitliche Mythologie reflektieren. Obwohl das nicht vollständig auszuschließen ist, konzentriere ich mich auf wesentlich grundlegendere Überlieferungsbestandteile, nämlich die zugrundeliegenden kosmologischen Konzepte.
Die grundlegende Annahme dabei ist, dass jede komplexe Mythologie letztlich auf elementaren Modellvorstellungen und Prototypen aufbaut, die in unterschiedlicher Weise verbunden, ausgestaltet und umgedeutet werden, um bestimmten ideologischen, politisch-soziologischen oder ökologischen Realitäten Rechnung zu tragen, bis zu einer unmittelbaren Konfrontation mit damit unvereinbaren anderslautenden Modellvorstellungen oder Beobachtungen weitgehend unhinterfragt bleiben. Solange die Erdkrümmung nicht systematisch beobachtet wurde, war etwa das tripartite Weltbild, die Vorstellung der Erde als einer Scheibe, die zwischen Oberwelt(en) und Unterwelt(en) liegt, nahezu universell verbreitet und lässt sich durchaus auch in modernen Märchen unabhängig von religiösen Vorstellungen beobachten. Zaubermärchen, die Unterweltsreisen beschreiben, sind daher nur ein gängiges und weit verbreitetes Motiv, ihre Handlung steht jedoch oft unverbunden neben christlichen oder islamischen Konzepten von Hölle und Verdammnis und ist daher nicht aus diesen heraus motivierbar. Die Schlussfolgerung, dass sie vorchristliche (bzw. vorislamische) kosmologische Vorstellungen bewahren, ist naheliegend, wobei allerdings der geographische Ursprung einzelner Sujets, ihre Verbreitungswege und ihre chronologische Tiefe nur durch detaillierte Verbreitungsstudien geklärt werden können.

3. Hypothese und Experiment

Eines der Probleme von Kauls Rekonstruktion ist, dass die detailliert spezifizierte Rolle und Reihenfolge der Tiere, die er mit unterschiedlichen Phasen der Sonnenreise (siehe Abschnitt 3 hier) assoziiert, nicht quantitativ erhärtet werden kann, sondern nur auf Einzelbeobachtungen basiert. Ziel des Experiments ist daher, nachzuweisen, ob Märchen, die Reisen in die Anderswelt beschreiben, ähnliche Verteilungen von Tieren haben, wie von Kaul prognostiziert. Dabei sei nicht unterstellt, dass diese Märchen die Unterweltsreise der Sonne beschreiben (wie von Kaul für die dänischen Bronzen vorausgesetzt), sondern lediglich, dass Übertritt und Aufenthalt in der Unter- oder Oberwelt Begegnungen mit bestimmten Akteuren mit sich bringen -- unabhängig davon, ob es sich bei dem "Passagier" um eine Totenseele, die Sonne, einen Gott, einen mythischen Helden oder einen Märchenprinzen handelt. Letztlich geht es also um die Assoziation von Tieren mit bestimmten kosmologischen Sphären. Diese Vorstellungen beruhen dabei nicht auf unmittelbarer Beobachtung, so dass hier große kulturelle Unterschiede zu erwarten sind.
Versetzen wir uns in die Position des menschlichen Erzählers, dann würden wir erwarten, dass der bronzezeitliche "Sonnenmythos", insbesondere, wenn er im Märchen auf menschliche Protagonisten übertragen wird, aus einer menschlichen Perspektive heraus erzählt wird, d.h., ausgehend von einer Sphäre, in der der Mensch sich aufhält (die Welt). Bezogen auf Kauls Sonnenkreislauf bedeutet das, dass wir für eine Unterweltsfahrt folgende Reihenfolge(n) erwarten:
  • Schlange (abend/nacht) > Fisch (nacht) > Raubvogel (morgen) (> Sonnenpferd (mittag))
Das Pferd würden wir hier (ebenso wie das Schiff) ausschließen, da es nur dann zuverlässig von einem regulären Transportmittel unterschieden werden kann, wenn es übernatürliche Attribute trägt. Insbesondere sind aber Pferde oft allgemeine Begleiter der ritterlichen Protagonisten. Als zweite Beobachtung ist festzuhalten, dass Fische im Märchen unterrepräsentiert und i.d.R. nur in Verbindung mit den "helfenden Tieren" auftreten, wo sie gleichwertig neben anderen Tieren stehen und damit wenig prominent erscheinen. Daher konzentriere ich mich auf Schlange und Raubvogel und würde voraussagen, dass, wenn es Kontinuität bronzezeitlicher Kosmologie in modernen Märchen gibt, dann auch die Schlange in Verbindung mit Abstieg in die/Aufenthalt in der Unterwelt und der Raubvogel in Verbindung mit dem Aufstieg aus der Unterwelt auftreten sollte, d.h. chronologisch die Schlange dem Raubvogel vorangeht.
Zur Prüfung dieser Ergebnisse habe ich nun ein Korpus von 15.459 deutschsprachigen Märchen aus Europa, dem Vorderen Orient und Asien erstellt, das aus verschiedenen Portalen kompiliert wurde (v.a. hekaya.de, maerchenbasar.de, chaineux.de, melosart.de, zeno.org). Aufgrund der Quellensituation ist davon auszugehen, dass hierbei zahlreiche Duplikate vorliegen, die allerdings nicht automatisch identifiziert werden können, da es sich um unabhängige Digitalisierungen handelt. Leider ist auch die Metadatenauszeichnung dieser Märchen außerordentlich uneinheitlich, so dass die Märchen nur grob nach geographischen Regionen strukturiert habe. Mich auf dänische Märchen zu beschränken, ist in diesem Zusammenhang schwierig, da die Datenmenge gering und die Kunstmärchen von Andersen überproportional vertreten sind.
In einem nächsten Schritt habe ich zunächst die Schlüsselbegriffe identifiziert, nach denen in den Märchen gesucht werden soll. Märchentypisch tritt die Schlange auch als Drache oder Lindwurm auf, und mit Hilfe einer häufigen und signifikanten Kollokation (dem Verb "schlug") habe ich in den Daten nach weiteren Synonymen gefiltert, konnte von diesen aber nur Drakos (griechisch) eindeutig hier zuordnen, da andere Unholde in vergleichbaren Rollen (Dew, Riese, Teufel, Troll, Ungeheuer, Kastschej, Zwerg) nicht notwendigerweise Schlangengestalt besitzen. Die Fahndung nach dem Raubvogel ist komplizierter. Als Prototypen habe ich den mythischen Greif und Adler verwendet, weitere mögliche Synonyme mit Hilfe des Kollokationsverbes "flog" gesucht. Aufgrund der Schnabelbiegung des bronzezeitlichen Raubvogels handelt es sich nicht um einen Raben- oder Eulenvogel, dementsprechend ergaben sich als weitere Synonyme Falke, Geier, Habicht, Sperber sowie die mythischen Vögel Simurg (urspr. persisch) und Roch/Rock (arabisch).
Für diese habe ich nun eine Substring-Suche durchgeführt (um neben Drache z.B. auch Nordlandsdrache zu finden). Für jeden Text, der Raubvogel- und Drachen-Matches enthält, habe ich nun erhoben, ob der erste Raubvogel-Match dem ersten Drachen-Match vorangeht oder umgekehrt.

Das Experiment wurde in unterschiedlichen Varianten durchgeführt. Tab. 1 gibt die Zahlen für Texte ohne Betrachtung der Überschrift und für die "vollen" Klassen von Raubvogel- (R) und Drachenartigen (D) sowie für "Adler" (A) allein und Drachenartige (D) als Klasse insgesamt.
Tab. 1: Korpusstudie



4. Zwischenbefund

Die Befunde sind leider nur für die Gesamtdaten (marginal) signifikant, für die Regionen ist die Anzahl der Belege zu niedrig. Insgesamt scheint es jedoch, dass die Reihenfolge Adler > Drache(nartiger) bzw. Raubvogel > Drache statistisch signifikant häufiger als ihre Umkehrung ist.

Was im Detail überrascht, sind die davon (wenn auch nicht signifikant) abweichenden Verteilungsmuster in Nord- und Mitteleuropa, für die eine größere Kontinuität mit der nordischen Bronzezeit zu erwarten gewesen wäre.


Mit anderen Worten: Die Korpusstudie zeigt, dass die von Kaul vorausgesagte Verteilung tatsächlich statistisch (marginal) signifikant auftritt. Damit gilt:

Eine Kontinuität zu bronzezeitlichen Vorstellungen scheint grundsätzlich möglich.


Aus diesem Grunde habe ich eine weitere Untersuchung durchgeführt, die nicht Texte auswertet, sondern auf der Sujet-Analyse der Historisch-Geographischen Methode und der in diesem Zusammenhang erhobenen Daten aufbaut. Dazu später mehr.

Wir erkennen jedoch auch, dass eine tiefere Analyse nicht nur erfolgversprechend (wir haben einen positiven Zwischenbefund!) sondern auch notwendig ist. Notwendig vor allen deshalb, weil wir nur unzureichende (bzw. zu unsaubere*) Datenmengen zur Verfügung haben, um etwas Sicheres für die Verteilung im germanischen Raum aussagen zu können, denn nur aus dieser heraus können wir auf eine mögliche Kontinuität aus der Nordischen Bronzezeit heraus schließen. Märchen, die erst im 19. oder 20. Jh. aufgezeichnet wurden, können im Prinzip auch im Gefolge der Kreuzzüge aus dem Orient gekommen sein, und dort ist das Motiv ja auch belegt ...

Anmerkungen

* Die gezielte Untersuchung zeigt gerade in Mittel- und Nordeuropa einen großen Anteil von Kunstmärchen (Hauff, Eichendorff, Tieck, Andersen) bzw. im Geist der Romantik literarisch ausgeformten Märchen (Brentano). Erstere sind für die Studie irrelevant, letztere verwenden oft allegorische Detailbeschreibungen wie "Drachen ... mit Adlersfüßen" oder "auf seinem Helm war das Bild eines Drachen", welche die Daten verfälschen.

Donnerstag, 24. April 2014

Ships on Bronzes. A Study in Bronze Age Religion and Iconography (Kaul 1998)

Much unlike many other prehistoric cultures, and especially, Bronze Age cultures in central Europe, the Nordic Bronze age provides a broad number of rich illustrations on metal and stone which, since their discovery, have provoked interpretations regarding their religious or ritual meaning, as they provide a unique window into a remote and somewhat obscure past. For Bronze Age Scandinavia, ships seem to be of particular importance, and this post discusses one of the primary contributions to the interpretation of Bronze Age iconography on Danish razors (with an example in the following piece from Skane).
Razor with 2 folded ship(s) (left, top and right edge, one above the other) with "crew strokes", two circles ("suns") and two bands of S-shaped figures ("extremely stylized sun horses") (Wikimedia)


1. Background

Flemming Kaul's study of ship iconography on such Bronze-Age razor knifes from Danmark represents a seminal example for how the creation of searchable data bases and their statistical evaluation can facilitate, support and guide the traditional qualitative methods of qualitative analysis in the Humanities. In the following, I try to provide an overview over the original study (which has been a basis for numerous subsequent publications not taken into account here), as well as a critical review of the methodology and (possibly) conclude with some remarks regarding alternatives to his interpretation.
Jensen (1993, p.54) gives a nice description of the state of the art regarding the interpretation of Bronze Age iconography prior to Kaul's study (emphasis by me):
Die Axt, die von Pferden gezogene Sonne, das Schiff, der Fisch, das Sonnenzeichen usw, sie alle hatten eine Bedeutung, die in Mythen berichtet worden sein muss und dargestellt in heiligen Zeremonien. Aber eine zusammenhängende Vorstellung dieses Universums von Göttern und Menschen können wir uns nicht machen. Wir können bloß konstatieren, daß die Symbole wieder und wieder gebraucht wurden und ständig in neuen Zusammenhängen. Und wir wissen auch, daß sie in ganz Skandinavien gebraucht wurden, wo sie Ausdruck für ein gemeinsames Bedeutungssystem gewesen sein müssen ...
In order words, by this time, the basic iconographic elements had been identified, but most researchers had basically resignated in their efforts to come to a principled interpretation and focused on descriptive analysis. Kaul (p.11-16, 49-57, 66-72) gives a brief overview over earlier approaches. Broadly speaking, many were based on analogies with presumably related traditions, including the Edda (same cultural sphere, about 1500 years later), the Ugaritic Baal cycle (Syria, roughly contemporary), the Egyptian sun ship (Egypt, roughly contemporary), or religious and iconographic developments in early Greece (introduction of Apollon, bird iconography on geometric and Mycenean ceramics). The fundamental methodological problem of every analogy-based approach is that these analogies involve cultures whose chronological and/or geographical relation with Nordic Bronze Age is remarkably remote, at best. A related school of thoughts discusses ties to reconstructed systems, e.g., continental Celtic mythology (partially reconstructed, neighboring cultural sphere, about 1000 years later), or Dumézil's reconstructed Proto-Indo-European mythology (reconstructed from [mostly] Indo-Iranian, Greek and Germanic sources). While these systems may be closer related, indeed, they are not directly attested and should thus be taken into consideration with great care only.

The first and foremost principle of Kaul's approach is thus to prioritize the immediate Bronze Age evidence: "Instead of looking around for traces of the names of gods and specific myths in time and space to throw light on Bronze-Age religion, it ... will be most fitting to perceive, assess and understand the material and pictorial evidence about Bronze-Age religion for what they are and not by comparing them with other later or distant religious systems." (p.15)

What is remarkable about Jensen's quote from above is that along with the limitations of our current understanding, he points out that "the symbols were used over and over again, and always in new combinations". But repetitive co-occurrence represents an ideal basis for a combinatoric analysis and precisely this is Kaul's innovative methodology: Where earlier approaches had to rely on analogy and/or cautious abductive interpretation, a database was created and statistically evaluated [1].

[1] Kaul describes results of his statistical analysis. He does not, however, report any correlations or significance scores, and indeed, as I show below, many correlations he observed are statistically not significant -- this is an important methodological flaw that may give rise to misinterpretations. A reconstruction based on insignificant observation requires additional support in order to be acepted as anything more substantial than a scientific hypothesis (see Sect. 4).

2. Empirical Analysis

Using a database, Kaul could develop a coherent (though necessarily incomplete) assessment of the Bronze Age universe of men and gods in an empirical fashion on the basis of correlation analysis.

As for the data set considered in this study, Kaul is aiming for an exhaustive analysis of a manageable number of objects and hence focuses solely on bronze objects with ship depictions from the Danish Bronze Age. Ship imagery from Southern Swedish and Norther German bronzes is excluded (for geographic reasons) as well as the rich repertoire of Scandinavian rock carvings (which may include depictions of cultic practices rather than actual myths, cf. p. 49ff., 196f.). Bronze objects without recognizable ships were also excluded (as the ship is taken to be leitmotiv for Bronze Age imagery, cf. p. 84f.). The majority of the remaining images is from razors, and this association between a specific iconography and a type of object indicates that, indeed, a coherent set of beliefs may be covered by this study.

In the analysis of this data set, then, the respective constituents (entites) and their features are identified and discussed, these include the ship itself (p.165-185), its direction (p.185-187), and assotiated motives (p.188-256). An important novel feature considered is the direction of movement, that Kaul motivates from an analysis of the Trundholm Sun Chariot (p.33f). The Sun Chariot features a horse pulling a sun disc, both being put on wheels. It is of high importance here as the ship is frequently accompanied by the sun-horse and the clear difference in ornamentation of both sides of the sun disc that implies a religious or ritual significance of direction: Both sides are ornamented in a similar fashion (hence both sides are meant to be shown), but one being gilded whereas the other is plain bronze. Kaul (p.33-34) concludes that the horse moves from left to right over day (showing the gilded side) but from right to left over night (showing the blank side):
If we look on the side of the sun-disc that is gold-covered, and which must be considered to be a symbol of the radiant sun, we notice that the horse is facing to the right and must be assumed to be "drawing", or moving together with, the sun to the right. This is of course the direction of the travel of the sun seen from the earth, where it happens to go from east to west. If we turn the sun-image round so that we can see the dark, non-gold-covered side of the sun-disc, then the horse is facing left. ... In our physical world, however, the sun never moves to the left; but it might well have been thought to do so in Bronze-Age ideology, namely at night, when it was drawn from west to east under the ground or perhaps also under the sea, in order to begin at the same starting-point at the next morning. ... [I]t should be emphasized that no trace of gold foil was found at the "dark side" of the disc ...
day side (Wikimedia) night side (Wikimedia)

The sun-horse was deposited around 1400 BC and is thus older than most other bronze objects in the data set. But as Scandinavian ship iconography was intensified by contacts with the Urnfield culture and their "Vogelsonnenbarke" motif (p.277-284), it is possible that the ship acquired its role as carrier of the sun (along with the horse) precisely as a result of this contact and that the earlier, indigenuous idea had been the horse as the sole carrier of the sun. The latter would be in line with other Indo-European (esp. Indo-Iranian, but also later Germanic) conceptions. We may also compare Greek mythology where the sun is drawn by horses at day, but traveling in a bowl on the Oceanos at night -- apparently correlating with the same ideas about the direction of movement.
Regular (day) view on Helios (Heracles traveling in the) Bowl of Helios
Determining the direction of ships is difficult, given the relatively high degree of abstraction of the Nordic razor engravings. Kaul employs the following criteria:
  • "Crew strokes". Lines "on board", sometimes with dots ("heads") on top. Assuming that these represent rowers, they may be slanted towards the direction of moving (p.73,185).
  • Keel extension of fore stem. From Mediterranean rams, Kaul concludes that keel extensions, even those not being staight, but pointing upwards, mark the fore stem. This is also confirmed by the crew strokes: Where the crew strokes indicate the direction, the raised keel extensions is always (12/13 observations, one outlier on an atypical piece) the fore stem. Accordingly, this is taken as an indicator, even without crew strokes (p.182,185).
Out of 415 catalog items, 97 (23%) can be confirmed as sailing to the right ("day") ships, 26 (6%) as sailing to the left ("night") ships. For the catalog, however, only the latter criterion was employed (p.247).

As for the associated symbols, circles are generally interpreted as sun symbols and represent the most frequent motif cooccurring with ships on bronzes (p. 195ff.). Out of 126 objects with sun images, 41 occur with ships sailing to the right, none with ships sailing to the left, thereby confirming their interpretation as day ships (with sun) and night ships (invisible sun), respectively (p.186, 195). Based on Kaul's numbers, I can confirm that the difference is significant (chi², p<.0005).


Sun-horses, i.e., horses pulling a sun symbol, are found 11 times on bronzes with ships (p.200), 10 pulling the sun from left to right, 1 the other direction (p.209). Kaul interprets the majority of them as being not directly on a ship, but before (or, less likely) behind (p.206). Accordingly, they may represent a phase in the cycle of the day travel of the sun, where they take the sun from the ship or bring it there. They never co-occur with night ships (p.186). It is important to note that the correlation with movement to the right, even if exceptionless, is not statistically significantly different from the distribution of day and night ships (Fisher, p>.05). 
The absolute number of sun-horses would be substantially larger if more abstract representations are counted, by which the sun-horse is reduced to an S-shaped symbol, partially associated with a dot (p.209-215). Although still slightly more frequently associated with day ships (86%=30/35, 5 with night ships) than to be expected from the relative number of day ships (79%=97/123), these results are not statistically significantly different from the distribution of day and night ships (chi², p>.05). Remarkably, though, the difference from the distribution of sun-ships is statistically significant (Fisher, p<.005). Kaul's conclusions from this data are thus empirically not well-founded, and in particular, his data on the S-shaped symbol cannot be used to substantiate his claims on the association between sun-horse and day ship.

Similar to sun-horses proper, a mushroom-like symbol of unknown function seems to be exclusively associated with day ships (9 objects with day ships, 2 objects with unrecognizable direction, none with night ships, p. 188). The correlation is exceptionless, but the difference is not statistically significantly different from the distribution of day and night ships (Fisher, p>.05). Kaul (1998, p. 189f.) interpreted it as a cult axe (rotated by 90°) or standart echoing the form of two consolidated ship stems (hence a "folded" ship, p. 194), earlier accounts saw it as a sail (Müller 1921, unlikely), or a sacred tree (Almgren 1927). More recently, Kaul (2014) interpreted it as a symbolic depiction of the travel of the sun, an interpretation that seems to follow Gelling & Davidson's (1969) idea that it may represent the vault of the heavens. Personally, I think that the interpretation as a tree (or another plant) is much more likely than the cult axe, in particular in the light of its similarity with the capital of Ionic columns that also evolved out of stylized trees (an early predecessor can be found at a late Bronze Age cauldron from Cyprus, now at the Neues Museum Berlin, placed between two opposing Cherubim/Lamassu where usually, a tree of life would be expected). In fact, the Germanic (and Proto-Indo-European) concept of a tree as bearer of the universe would be capable to harmonize this idea with the "vault of the heavens" idea. The question remains, though, why this tree as the axis of the universe would be carried around on a ship.

Unlike individualized sun-horses, horse-headed stems occur both with day (80%, 28/35) and night ships (20%, 7/35). This ratio is basically identical to the relative frequency of day (79%, 97/123) and night ships (21%, 26/123), and may simply indicate that the ship has taken over certain qualities from the earlier horse (p.186,200). Their distribution is statistically significantly different from that of sun-ships (Fisher, p<.005). S-shaped fore stems may represent stylized horse-headed stems (p.210) and have a similar distribution, with 82% (55/67) correlations with day ships and 18% (12/67) with night ships (p.186). Again, their distribution is statistically significantly different from that of sun-ships (Fisher, p<.005). Accordingly, there is no empirical basis to claim that horse-headed stems or S-shaped stems are specifically correlated with day ships and/or the sun.

The fish occurs on 9 objects (p.216), with 7 day ships and 2 night ships (p.186). This distribution is not significantly different from the total distribution of day and night ships (Fisher, p>.05), but its difference from the distribution of sun-ships is marginally significant (Fisher, p<.05). Kaul's interpretation is, however, much more specific. Based on a razor where a bird of prey feeds on a fish, he develops the plausible hypothesis that the sun is transferred from the fish to the bird of prey in the presence of the ship (p.217ff.)

Like the fish, the distribution of the snake is not signifiantly differently from the total distribution of day and night ships (Fisher, p>.05), but its difference from the distribution of the sun-ship is marginally significant (Fisher, p<.05): 5 snakes occur with day ships, 2 with night ships (p.186). Unlike the fish which may always be upside-down (and hence, heading the other way), the direction of movement of some snakes can be recognized (in particular of hybrid horse-snakes that also have legs, p. 223). From 6 snakes with recognizable and unambiguous direction, 5 move to the right, 1 moves to the left (p. 221-229). This is neither significantly different from the total distribution of day and night ships nor from the distribution of sun-ships (Fisher, p>.05).

The bird of prey (p.243-245, birds with a down-turned beak) are relatively rare, so that Kaul includes Swedish material into the discussion. Without a quantitative analysis, he argues that many of them stand particularly close to the fish, and one apparently is about to devour the fish. The interpretation, mentioned above already is that the bird of prey may be following the fish in the presence of the ship.

Aquatic birds (p.242-243, birds with up-turned beak) however, are considered static participants of the cycle of the sun. Kaul interprets them as being fixed on standarts or the ship's stems rather than being integrated in the "narrative", reflecting problems to come to a coherent interpretation.

As for the very rare instances of clearly recognizable human figures (p. 248-256), Kaul assumes that these may represent a relatively late stage in Bronze Age mythology development, and may mark the advent of a anthropomorph divinities. As these actually co-occur with crew strokes, they may be larger-than-life representations of human beings, but qualitatively different from ordinary crew members. A remarkable feature is that heads can be augmented with halos (if the ship moves to the right) or with helmets (once, if the ship moves to the left), but never with ordinary human features such as a nose. Given the scarcity and heterogeneity of the data, an association with solar divinities, or the celestial twins (dioskuroi), remains, however, speculative.

Out of these observations, but including additional criteria such as the relative position of the sun(s) in the images, or the sequential order and orientation of symbols, Kaul then constructs the daily cycle of the sun (p.262-265), basically by arranging selected razors into a coherent sequence and assigning them tentative temporal interpretations.

3. Interpretative Analysis

Before describing these in detail, I want, however, to point out what Kaul's numbers and my significance analysis have shown so far: We could clearly identify two different patterns of distributions, one being associated with an exclusive movement of the ship to the right (circles, possibly [exceptionless, but insignificant] sun-horse, "mushroom", humans with halo), and interpreted as being related with the movement of the sun at day, and one distributional pattern that is insensitve to the division between left- and rightward movement, resp. day and night ships (horse-headed stem, S-shaped stem, fish, snake, possibly [no data] crew strokes and humans with helmets [singleton]). In addition, narrative elements indicate that the fish may be followed by a bird of prey. Both classes show statistically significant differences, so that we can infer a basic differentiation between celestial ("day only") and general ("day or night") aspects as shown below:


Kaul's quantitative data does not provide more information than in the diagram above. In particular, we have no structured information about co-occurrences between, say, fish/snake and sun-horse. Only such data would allow us to identify entities that we can locate more precisely in the lower or middle part of the diagram. In principle, this analysis would be possible on the basis of the second volume (catalog), but it would require a full retrodigitalization of the database.

Instead of continued statistical analysis, Kaul now begins to develop his model, but again: Beyond the information in the diagram above, this is an interpretation not substantiated with statistical (empirical) data. From a logical point of view, the following discussion is an abductive interpretation, i.e., based on plausibility considerations, and hence, not logically provable.

Based on (initially) 12 selected razors with particularly "narrative" character and partial overlaps, Kaul reconstructs the following sequence of events and augments them with a tentative temporal interpretation:

Journey of the sun travelling over the sky (Nationalmuseet, slightly updated from Kaul 1998, p. 262)
Kaul (1998) explains:
Our journey with the sun on its cyclical daily journey (...) begins at the bottom left [10] with (...) a ship sailing to the left, followed by a fish swimming to the left. ... [H]igher up [1] (...) the sun is being pulled upwards and to the right by a fish at sunrise from a night-ship to a day-ship sailing to the right ... The fish is allowed to travel on board the ship [2] (...), is devoured by a bird of prey [3] ... The sun horse, in this case two sun-horses, are about to pull the sun from the ship with the aid of a cord [4] (...), and finally at the sun's highest point at noon, (...) a sun-horse has just collected the sun from the ship [5] ... Now in the afternoon, the sun is beginning to sink in the sky, and the sun-horse lands with the sun on the ship [6] ... Some time after the sun-horse has landed, the sun is taken over by the snake from the afternoon-ship [7] (...), and below can be seen yet another snake in front of this ship presumably "concealing" the sun in its spiral-curls [8] ... [A]t sunset, a bird-head's ship can be seen [omitted in the revised diagram above] (...), pulling the sun down. Finally, (...) two ships can be seen sailing to the left, the one above the other [9] ... The wheel has come full circle.
(quoted from p.262, references to catalog numbers replaced by references to the numbers in the diagram in square brackets)
One should add at this point that Kaul's analysis was subsequently extended, e.g., by clarifying his interpretation of the "crew strokes": Kaul (2005) suggested "that also the souls of the dead had an important role in this divine play, being paddlers of the sun-ship or sun-ships that every day and night travelled through all the spheres."

4. Critical Discussion

Kaul's interpretation given above implicitly presupposes that:
  1. the majority of razors cover different aspects of a single coherent narrative, 
  2. this narrative pertains to the daily voyage of the sun,
  3. the razors used for the reconstruction provide well-defined, but partially overlapping episodes in this narrative, 
  4. the sequential order of symbols implies a chronological order, and
  5. the relative position of the circles allows us to infer an absolute temporal interpretation.
These assumptions are plausible, but out of the archeological record, they are unprovable. Even though appealing, this is methodologically problematic: If any of these assumptions turns out to be false, the entire reconstruction is obsolete. Personally, I am particularly suspicious with respect to assumption 2 (it could be another natural cycle correlated with the sun, e.g., that of the year), assumption 3 (if it is a daily cycle: why should the narrative on a razor be limited to a single episode in the narrative instead of selecting the main stations of the entire cycle), and assumption 5 (the relative position may be enforced by external constraints, e.g., the shape of the medium).

Even though the approach and its result seem plausible, the selection process, and especially the association of certain stations with specific times (beyond day and night) is a highly subjective undertaking. This may be a methodological issue, in particular with respect to episodes without obvious overlap. To support his analysis, a explicit evaluation is thus required in order to assess the quality of this reconstruction beyond mere plausibility considerations. Such an evaluation is, however, not performed in a systematic way.
As a criterion for intrinsic evaluation one may consider counting the number of bronzes that are support this reconstruction (i.e., all representations with sufficient episodic content to be assigned to one or several points in Kaul's reconstruction), and the number of bronzes that do not contradict this reconstruction (e.g., all representations of ships without additional symbols associated with them). Kaul (1998) does not provide these numbers, but we may note a few exceptions which may not refer to this cycle. In particular, this includes all razors with representations of humans (they are not part of his reconstruction). However, even with these numbers provided, such an evaluation remains questionable in its significance, as is not performed against an independent evaluation set, but only against the source material from which the reconstruction was built. It is possible to find additional illustrations from Northern Germany, Sweden and Norway (and some of these are covered in his discussions of the different motifs), but to compile a corresponding catalog requires several years of research -- comparable to the time Kaul took to prepare this publication (1993-1998) -- and is thus beyond reach. Subsequent extensions of Kaul's interpretation to the analysis of other objects provide such an intrinsic evaluation to a limited extend (qualitative interpretation in archeology seems to lack the concept of a baseline that this interpretation could be compared with and measured against). I remember several exhibits in different museums that may be used to support his interpretation and which were not mentioned in his discussions (e.g., at the Neues Museum Berlin), but such unsystematical observations provide merely episodic evidence, at best. At the moment, evaluation thus has to rely on extrinsic information, i.e., additional support from sources other than Nordic Bronze Age iconography. Such an evaluation, however, is beyond the scope of Kaul's monograph and his primary area of expertise.

Personally, I am enormously impressed by the scope and the results of Kaul's catalog and in-depth study, and its apparently enthusiastic reception by the community confirms that it represented an enormous methodological step ahead in the field. But as a researcher with computer science background, I also see some methodological shortcomings, most noteably
  1. the insufficient mathematical formalization of the statistical evaluation (including the complete lack of significance and correlation tests) and
  2. the lack of extrinsic evaluation.
As for the first point, I performed some of the significance tests using Kaul's data and could confirm the significance of some of his conclusions, but the scores also indicate the speculative nature of others. Given the limited amount of source data, the applicability of these methods is limited, but a correlation study investigating, e.g., the cooccurrence between sun and fish/snake should be possible and would be an important first step.
For the second point, extrinsic evaluation, one would need to confirm some of the conclusions of Kaul that go beyond objective quantitative measurements from the comparison with related cultures, iconographies and religions. As mentioned above when criticizing earlier analogy-based approaches, this is problematic because of considerable chronological and/or geographical gaps between the Nordic Bronze Ages and comparable material. To support the plausibility of this reconstruction, four main strategies can be employed:
  1. confirming selected aspects with replication studies on different data sets from related cultures,
  2. confirming conservation of selected aspects in descending or from preceding cultures,
  3. confirming selected parallels with contemporary cultures, or
  4. confirming selected parallels in other, unrelated cultures with similar socio-economic, political and/or ideological systems.
It should be noted that each of these strategies should be applied as they tackle different aspects of the model, i.e., iconographic parallels (1), preserved cultural heritage across different socio-economic, political and ideological systems (2), flow of ideas anong contemporary cultures on a comparable level of development, and cultural universals (4). In addition, it is necessary for (1)-(3) to identify and to confirm paths of transmission. Otherwise, any confirmed parallel may be attributed to an insignificant chance resemblance, or, even worse, confirm the author's expectations from prior knowledge that were implicitly guiding the development of the reconstruction.
An important difference between the suggested extrinsic evaluation and earlier, analogy-based approaches is that here, the reconstruction is developed before any explicit comparison with other mythological systems is performed. The basis of reconstruction is the archeological-iconographic record alone, and reconstruction and evaluation should be performed by independent teams.
I developed some ideas on extrinsic evaluation, and actually gained some insights, already, but that's far beyond the scope of this blog ;)

References
Jørgen Jensen (1993), Führer durch das Nationalmuseum. Dänische Vorzeit. Nationalmuseum Kopenhagen.
Flemming Kaul (1998), Ships on Bronzes. A Study in Bronze Age Religion and Iconography. Studies in Archeology & History 3(1&2), PNM (Publications from the National Museum), Copenhagen.
Flemming Kaul (2005), Bronze Age tripartite cosmologies, Prähistorische Zeitschrift 80(2):135–148.
Flemming Kaul (2014), Vom ewigen Kreislauf der Sonne, AiD (Archäologie in Deutschland) 2/2014

Dienstag, 22. April 2014

Nationalmuseet Kopenhagen: Sonnenwagen von Trundholm

Im August 2011 (ja, schon eine Weile her) habe ich Kopenhagen besucht und bei dieser Gelegenheit auch das Nationalmuseum, eine großartige und umfassende Sammlung zur dänischen Vergangenheit, so umfangreich allerdings, dass ich mich auf die Abteilung für Ur- und Frühgeschichte beschränkten musste. Die wichtigsten Gründe für diesen Besuch waren der Sonnenwagen von Trundholm und (natürlich) der Gundestrup-Kessel, aber der überragende Umfang der Sammlung hat mich wirklich überrascht.

Hochspannend in diesem Zusammenhang war insbesondere die Präsentation des Sonnenwagens von Trundholm.

Sonnenwagen von Trundholm, Tagesseite (Wikimedia)




Der Name "Sonnenwagen" ist zunächst etwas irreführend, denn tatsächlich ist es kein Wagen, sondern die auf Räder montierte Darstellung eines Pferdes, das die Sonnenscheibe zieht. Im weiteren Sinne ist die Bezeichnung zwar nicht unrichtig, aber sie weckt völlig falsche Assoziationen mit etwa dem Sonnenwagen des Helios: Auch bei den Griechen wurde die Sonne von Pferden über den Tageshimmel gezogen, jedoch anthropomorph umgedeutet und (wie ein Mensch) in einem Streitwagen.

Abgesehen von der einmaligen Möglichkeit, ein so berühmtes Stück einmal aus der Nähe zu sehen, hat mich aber überrascht, wie es in einen weiteren ikonographischen Kontext eingebunden wurde, was die Teil-Rekonstruktion einer komplexen Sonnenmythologie ermöglichte. Konkret liegen der Präsentation dort Forschungsarbeiten von Flemming Kaul zugrunde, der den Sonnenwagen in Zusammenhang mit spätbronzezeitlichen Darstellungen von Sonnenpferden und -schiffen brachte, die sich v.a. auf nordischen Rasiermessern finden. Im Ergebnis steht die Rekonstruktion einer Sonnenfahrt, bei der die Sonne zu verschiedenen Tageszeiten von unterschiedliche Tieren und weiteren Objekten begleitet wird.
Im ersten Moment hat mich diese Interpretation sehr beeindruckt, aber nicht vollends überzeugt. Das System scheint in sich plausibel und auf einer soliden empirischen Basis (und nicht etwa durch Analogieschlüsse) entwickelt worden zu sein, aber die Interpretation ist zu detailliert und zu "glatt", um nicht Skeptizismus hervorzurufen -- bei mir jedenfalls. Skeptizismus vor allem auch deswegen, weil rein gar nichts in der historisch überlieferten Mythologie oder deren Nachklängen in späteren Märchen und Riten auf eine so starke religiöse Fixierung auf die Tagesreise der Sonne hindeutet. Diese Diskrepanz empfinde ich nach wie vor ausgesprochen problematisch. Es ist zwar keineswegs zu erwarten, dass die Überlieferungen der historischen Zeit tatsächlich die Mythologie und Religion repräsentieren, die einer gut anderthalb tausend Jahre älteren Ikonographie zugrundeliegen, aber es wäre verwunderlich, wenn überhaupt nichts davon geblieben wäre. Tatsächlich gibt es Gegenbeispiele, die zeigen, dass über ideologische, politische, soziale und religiöse Umbrüche hinweg bemerkenswerte Kontinuitäten bestehen, die in Mitteleuropa durchaus religiöse und mythologische Fragmente über fast 2000 Jahre hinweg bewahrt haben [1]. Selbstverständlich handelt es sich dabei jeweils nur um ausgewählte Teilaspekte und die Kriterien für diese Auswahl sind nur ansatzweise zu erfassen: Die in [1] genannten Beispiele berühren kosmologische Aspekte (Aufenthalt der Totenseelen und deren Wiederkehr in der Wilden Jagd) sowie Bezüge zum Erntezyklus (Erntesegen an Wodan), die bis in die Neuzeit bewahrt wurden -- ungeachtet offensichtlicher Widersprüche zur Kirchenlehre. Zumindest in diesen Punkten wäre dann jedoch wohl auch ein Fortleben spätbronzezeitlicher Traditionen (ungeachtet eventueller Diskrepanzen zu den vorherrschenden Ideen der Eisenzeit und der frühen historischen Zeit) zu erwarten. Wie dieser Widerspruch aufzulösen ist, war die große Frage, mit der ich die Ausstellung verließ, und mit der ich mich im folgenden ein bisschen intensiver beschäftigt habe: Ich habe mir Kauls (1998) "Ships on Bronzes" zugelegt, um seine Analyse und Methodik nachzuvollziehen, weitere Museen besucht, viel gelesen, ethnographische Parallelen herangezogen, und so die Zeit erlaubt, werde ich versuchen, einige Ideen dazu in diesen Blog zu setzen.
All dies nun hatte mich so beschäftigt, dass ich die großartigen Funde späterer Zeiten, wozu v.a. das Hjortspring-Boot und der Gundestrup-Kessel gehören, leider nur noch überfliegen konnte. Ich muss wieder kommen ;)
Ein Manko meines damaligen Besuchs will ich aber auch nicht verschweigen: Es gab seinerzeit keinen Museumsführer zur Ur- und Frühgeschichte. Das könnte sich mittlerweile geändert haben, denn damals war der offensichtliche Grund die in den letzten 10 Jahren zuvor erfolgte Umgestaltung um den rekonstruierten Sonnenmythos herum ... den älteren Führer (Jensen 1993) habe ich später antiquarisch erworben, einen neuen Führer gab es bis dato noch nicht.

Fußnoten
[1] Ein Beispiel ist die bis ins frühe 20.Jh. im gesamten deutschsprachigen Raum überlieferte Wilden Jagd, deren Anführer regional noch als Wodan (Waur, Wode, Muote usw.) bekannt war und sich so unmittelbar an die germanische Mythologie anschließt. Nicht nur grundlegende mythologische Vorstellungen wurden dabei bewahrt, sondern auch komplexe Ernterituale, vgl. z.B. Grimm (1875, S. 127-130) zu niederdeutschen Kornsegen -- immerhin fast tausend Jahre nach der Christianisierung und beinahe vierhundert nach der Reformation. Andere Vorstellungen, nach denen die Wilde Jagd von einer Frau (thüringisch-hessisch Holle, süddeutsch Berchta) geleitet wird, die auch die Seelen von Kindern aufnimmt, scheinen viel weniger mit der in der Edda verarbeiteten spätgermanischen Mythologie vereinbar und reflektieren möglicherweise noch älteres Gedankengut, vielleicht zu verbinden mit der spätantik dokumentierten Göttin Hludana (Grimm 1875, S.211f.), und falls so, dann womöglich über mindestens 1700 Jahre hinweg bewahrt. Falls wir mit Grimm annehmen, dass Hludana mit der altnordischen Hlodyn nicht nur sprachlich verwandt sein sollte, sondern beide auf gemeinsames Vorbild zurückgehen, dann sind die mit ihr verbundenen Ideen bis in protogermanische Zeit, also etwa die Mitte des 1.Jt.v.u.Z. zurückzuprojizieren.

Literatur
Jacob Grimm (1875), Deutsche Mythologie, Bd. 1, 4.Auflage, Berlin.
Jørgen Jensen (1993), Führer durch das Nationalmuseum. Dänische Vorzeit. Nationalmuseum Kopenhagen.
Flemming Kaul (1998), Ships on Bronzes. A Study in Bronze Age Religion and Iconography. Studies in Archeology & History 3(1&2), PNM (Publications from the National Museum), Copenhagen.

Anm. zur externen Links: Wikipedia-Inhalte haben selbstredend keinen wissenschaftlichen Anspruch, sind aber hier aufgrund ihrer vermutlich bleibenden Verfügbarkeit die am ehesten geeignete Ressource, um Hintergrundinformation einzubinden ;)