Freitag, 6. November 2020

Alternativen zum Gender-Sternchen

Um es vorwegzuschicken, ich bin kein Antifeminist, und Bemühungen, Geschlechterdiskrimierung in Sprache und Gesellschaft zu beseitigen, stehe ich positiv gegenüber. Klar ist freilich auch, dass Formen der Geschlechterdiskriminierung mit Bezug auf Verdienst, Aufstiegsmöglichkeiten und persönliche Entscheidungsfreiheit (§218) eigentlich dringendere Probleme sind, denn hier besteht konkreter Handlungsbedarf. Geschlechterneutralität auf der Ebene bloßer Worte ist allerdings etwas, das allen Beteiligten einen bequemen Ausweg gibt, es verursacht weder große Kosten noch Veränderung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, es wälzt die Problematik von der Gesellschaft auf das Individuum ab und es ist ein vergleichsweise leicht zu erringender Sieg, der denen, die eine Veränderung brauchen, zumindest signalisiert, dass sie wahrgenommen werden.

Aber ich bin auch Linguist und Muttersprachler des Deutschen, und ein Großteil der Versuche, Geschlechtsneutralität in der Sprache umzusetzen (https://geschicktgendern.de/tag/genderstern/), sind einerseits weitgehend unwissenschaftlich und andererseits wirklich eine Verletzung des Sprachgefühls. Und mit Sprachgefühl meine ich nicht etwa ein diffuses Unbehagen mit einer ungewohnten Aussprache, etwa der Pausen-Sprechung des Gender-Sternchens (Mitarbeiter*innen, also Mitarbeiter-hicks-innen) sondern empirisch nachweisbare Prozesse in der Lautstruktur des Deutschen, die historisch seit mehreren hundert Jahren wirksam sind, und die eine solche Aussprache eigentlich verbieten. 


Silbenstruktur des Deutschen

Allgemein beschreibt man die Silbenstruktur einer Sprache als eine Sequenz von Konsonanten (C) und Vokalen (V). Das Japanische ist beispielsweise bekannt dafür, eine sehr einfache Silbenstruktur zu verwenden, in denen eine Silben (bis auf wenige Ausnahmen) stets auf einen Vokal enden, die Silben haben also fast alle die Struktur CV (ein Konsonant, gefolgt von einem Vokal). Im Deutschen ist das etwas komplizierter, wir können mehrere Konsonanten vor einem Vokal haben (etwa CCCV in Stroh), oder auch mehrere Konsonanten nach einem Vokal (etwa CCVCC in plump), was es aber nicht gibt, sind Silben, die mit einem Vokal beginnen. Freilich gibt es Worte, die mit einem Vokal beginnen, aber vor dem Vokal ergänzt das Deutsche dann einen Konsonanten, den wir in der Orthographie nicht schreiben, den Kehlverschluss (Glottalstop, phonetisch geschrieben ʔ). Auch ein Wort wie Ah! hat daher die Silbenstruktur CV. Allerdings ist der Glottalstop im Deutschen auf genau diese Funktion festgelegt (weshalb sein Status als vollwertiger Konsonant manchmal bezweifelt wird) und kann insbesondere nicht im Wortinneren auftreten. 

Daraus folgt, dass die Silbenstruktur von Bürger*innen, wenn sie mit ʔ gesprochen wird, schlicht ungrammatisch ist. Die Aussprache des Gendersternchens durch eine Pause ist aber genau das, ein Glottalstop mitten in einem Wort. Um zu verdeutlichen, was hier mit ungrammatisch gemeint ist, können wir Fälle heranziehen, in denen ein Glottalstop im Wortinneren eigentlich zu erwarten wäre, und wie das Deutsche mit solchen Konstellationen umgeht. Um es vorwegzunehmen: Sie werden beseitigt, und zwar systematisch und seit Jahrhunderten.
 

Der Hiat im Deutschen

Der typische Kontext, in dem ein Glottalstop im Deutschen organisch zu erwarten wäre, ist, wenn ein Wort mit finalem Vokal durch ein Morphem ergänzt wird, das mit Vokal (bzw. Glottalstop) beginnt. In der Sprachwissenschaft wird das Zusammentreffen von Vokalen zweier Silben als Hiat ("Lücke") bezeichnet. Wir haben einen solchen Fall z.B. in der Flexion. Betrachten wir das Wort Vieh, Plural kann im Deutschen unterschiedlich gebildet werden, beispielsweise durch -er (wie Häuser zu Haus), und das wird auch hier verwendet. Allerdings gibt es Vieher nicht, sondern nur Viecher. Der Hiat wird durch einen Konsonanten ersetzt. In diesem Fall hat dieser Konsonant auch eine etymologische Basis. In anderen Fällen aber nicht. Betrachten wir die Frau, reguläre Pluralbildung mit -en (wie in Herren zu  Herr). Geschrieben sieht Frauen durchaus nach Hiat aus, allerdings gibt es keinen Glottalstop. Der Grund dafür -- teilweise verschleiert durch die Diphthongierung von mhd. û zu au -- ist die Einführung eines Gleitlautes. Im Mittelhochdeutschen wird das deutlich durch Schreibungen mit w wie in frouwen, im Neuhochdeutschen ist der Gleitlaut mit der zweiten Hälfte des Dipthongs zusammengefallen (und könnte sogar eine Rolle bei der Entstehung der Dipthongierung gespielt haben). In Varietäten ohne Diphthongierung waren die Strategien zur Hiatvermeidung noch deutlich aggressiver. Im Nordmärkischen beispielsweise wurde hier ein g eingesetzt. Daher dort dann Fru - Fruggen. 

Die Vermeidung von Glottalstops im Wortinneren ist demnach schon seit Jahrhunderten aktiv, und sie dauert an. Tatsächlich gibt es in jüngeren Formen einen scheinbaren Hiat. Die Jenaer (Einwohner von Jena) mögen hier genannt sein. Das wird (zumindest in meiner Aussprache) aber ohne Glottalstop gesprochen, sondern ich habe da einen Hauchlaut, etwa h. Der ist in diesem Fall auch etymologisch plausibel, denn -a stammt aus älterem -ach (für einen Fluß). Dass das nicht in die Schreibung gelangt ist, mag damit zusammenhängen, dass die Form Jenaer vermutlich nicht über die Aufklärung hinausgeht, und dass die ursprüngliche Selbstbezeichnung wahrscheinlich wohl eher Jensche gewesen sein dürfte. 

Eine andere Quelle für einen Hiat sind Lehnworte aus Sprachen, in denen das eher zulässig ist. Klassisches Beispiel dafür ist der Neandertaler. Natürlich ist Neander- kein deutsches Wort, sondern Griechisch ("Neumann"), deswegen zählt das hier nur bedingt, aber (zumindest in meiner Aussprache) artikuliere ich da keinen Glottalstop, sondern einen (schwach artikulierten) Gleitlaut (etwa j). Die Einführung von Gleitlauten aber ist genau derselbe Prozess, der schon im Mittelhochdeutschen nachweisbar ist, und wahrscheinlich ähnlich alt wie andere Besonderheiten des Deutschen wie z.B. die Auslautverhärtung (das ist das, was es uns schwer macht, den Unterschied zwischen Englisch bad und bat zu artikulieren). Die ist in der Orthographie bereits seit gut tausend Jahren nachweisbar.

Zusammengefasst ist stark anzuzweifeln, dass eine Aussprache, die sowohl fundamental mit der Phonologie des Deutschen kollidiert als auch nicht durch einflussreiche Kontaktsprachen gestützt wird (das Englische besitzt keinen Glottalstop), sich mittelfristig durchsetzen kann. Selbst wenn sich das offiziell etabliert, ist zu erwarten, dass der Glottalstop sehr bald abgeschliffen und assimiliert wird, und dass er entweder entfällt (nach Konsonant) oder sich in einen Gleitlaut verwandelt (nach Vokal). Und damit ist das Ergebnis, dass Bürger*innen letztlich genauso gesprochen wird wie Bürgerinnen. Ich persönlich kann grundsätzlich damit auch in der gesprochenen Sprache leben (solange nicht ausschließlich männliche Personen damit bezeichnet werden sollen), aber das führt auf ein anderes Problem, die Ersetzung geschlechtsneutraler durch geschlechtsspezifische (weiblicher) Begriffe.

Brauchen wir ein generisches Femininum?

Die Wurzel des Problems ist ein anderes, nämlich eine Reihe fundamentaler Missverständnisse über die Natur des grammatischen Geschlechts, denn das hat mit dem natürlichen Geschlecht eigentlich relativ wenig zu tun. Ein Becher ist nicht grundsätzlich männlicher als ein Glas oder eine Flasche, eine Bohle nicht grundsätzlich weiblicher als ein Brett oder der Baum aus dem sie gemacht sind. Das sind letztlich arbiträre grammatische Kategorien. Sie überlappen allerdings teilweise mit dem biologischen Geschlecht. Dafür gibt es sprachhistorische Gründe, allerdings auch praktische, denn wir können das grammatische Genus verwenden, um effektiver und eindeutiger zu sprechen. 

Nehmen wir folgendes Beispiel:

Der Junge hat den Kleinen geschubst. Er ist dann davongelaufen. 

Hier ist unklar, wer eigentlich wegläuft. Meist wird das wohl so verstanden werden, dass der Täter weggelaufen ist, denn Personalpronomen tendieren dazu, sich auf das Subjekt zu beziehen, aber diese Interpretation ist nicht zwingend. Man kann das deutlicher machen, indem man sagt, Der ist dann davongelaufen, denn das Demonstrativpronomen bezieht sich eher auf das Nicht-Subjekt, oder man kann noch einmal Der Kleine sagen. Das grammatische Genus erlaubt uns aber auch etwas anderes, nämlich, dem Opfer ein anderes Genus zu geben, um es so eindeutig zu identifizieren, ohne mehr (der Kleine) oder umgangssprachlicher (der) sprechen zu müssen:

Der Junge hat das Kind geschubst. Es ist dann davongelaufen. (eindeutig das Opfer)
Der Junge hat das Kind geschubst. Er ist dann davongelaufen. (eindeutig der Täter)

Das ist genau (und nur) deswegen möglich, weil das grammatische Genus nicht mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmt und wir einer Person durch gezielte Wahl sprachlicher Mittel unabhängig vom biologischen Geschlecht ein anderes grammatisches Geschlecht zuweisen können.

Genusdifferenzierung ist daher etwas ausgesprochen nützliches, und darauf zu verzichten (etwa dadurch, dass man Pronomina beider Formen abwechselnd verwendet) ist nicht nur verwirrend, sondern unökonomisch. (Und wird sich vermutlich schon deswegen nicht in der Sprachpraxis durchsetzen.) Man könnte die Pronomen grundsätzlich standardisieren, allerdings verliert man dann die Möglichkeit, dadurch zu disambiguieren. Auch das macht das Sprechen weniger effizient und wird langfristig nur haltbar sein, wenn sich alternative Strategien zur Differenzierung entwickeln. Diese sind durch präskriptiven Sprachgebrauch aber kaum zu erreichen. Sie entstehen gewissermaßen von selbst, wenn in einer Sprache Formen der beiden Paradigmen ganz oder teilweise zusammenfallen. (Im Schwedischen etwa ließ sich hen dadurch motivieren, dass es die Grundform der Personalpronomina han f. und hon m. mit dem Vokal des Neutrums den/det zusammenfügte.) Das ist im Deutschen nicht der Fall -- zumindest nicht im Singular.

Ganz anders ist das im Plural. Weder Pronomen noch die Flexion von Adjektiven oder Substantiven unterstützen die Annahme eines grammatischen Genus in der deutschen Pluralmorphologie. Gewissermaßen behandeln wir (in morphologischer Hinsicht) den Plural wie ein viertes Genus: Maskulinum, Femininum, Neutrum und Plural. Sprachübergreifend wäre hierbei vielleicht besser, von Nominalklassen zu sprechen (wie etwa im Bantu) und sie durchzunummerieren, aber es gibt eine Tradition der Grammatikbeschreibung, sie mit geschlechtsbezogenen Begriffen zu bezeichnen.

Dieser Begriff des grammatischen Geschlechts ist nun freilich zu trennen von zwei anderen. Einerseits haben Substantive, die eine Singularform haben, ein lexikalisches Geschlecht. Es ist im Plural nicht morphologisch markiert, aber Bestandteil der Wortsemantik und im Singular erkennbar. Andererseits besitzen Menschen, verschiedene Tiere und unbelebte Dinge ein erkennbares natürliches Geschlecht, das einerseits belebte und unbelebte Dinge (+- animate/human) und andererseits das biologische Geschlecht (männlich / weiblich) unterscheidet. Diese korrespondieren nur eingeschränkt mit dem Genusbegriff der Sprache, aber es gibt durchaus Korrelationen. 

Darüber hinaus besitzen aber nicht nur Lexeme ein lexikalisches Geschlecht, sondern auch Morpheme. In der Derivation wird das lexikalische Genus des Stammes durch das grammatische Genus des Morphems ersetzt, so dass Diminuitiva (Mädchen, Männchen, Weibchen, Frauchen, Herrchen) durchweg grammatisch neutral (biologisch unbelebt???) sind, Abstrakta (Schönheit, Aufrichtigkeit; Anhörung) feminin (biologisch weiblich???), Agentiva (Lehrer, Hörer) maskulin (biologisch männlich???) usw. Neben der Verwechslung zwischen grammatischem und biologischem Geschlecht zielt der Versuch der Korrektur mit Hilfe des Gender-Sternchens nun darauf ab, Geschlechterungleichheit durch Derivation zu korrigieren. Grammatische Geschlechtsneutralität setzt dabei allerdings voraus, dass man sich auf Gruppen von Menschen bezieht -- nur besitzt der Plural gar kein grammatisches Genus. Sinn macht eine Genuskorrektur durch Derivation daher nur dann, wenn Individuen angesprochen werden. Hier kann durchaus Geschlechtsunsicherheit bestehen (und dann kann man immer eine Umschreibung finden oder notfalls auf Neubildungen wie ersie oder dialektale Formen wie de  [niederdeutsches Demonstrativpronomen und Artikel nom.sg.fm. und nom.pl.] zurückgreifen), aber wo das nicht der Fall ist, ist der Genderstern schlicht unnötig.

Ein letztes Missverständnis liegt darin, dass viele heute als maskulin wahrgenommene Formen eigentlich geschlechtsneutral sind. Das gilt nicht zuletzt für die Wurzel man(n) in man. Wäre das geschlechtsspezifisch, dürften abgeleitete Formen wir jemand, niemand und Mensch (das man etymologisch korrekt eigentlich Männsch schreiben müsste < *mannisko-) eigentlich nicht mit der neutralen Bedeutung existieren, in der wir sie kennen. All das ist tatsächlich von derselben Wurzel abgeleitet, von der auch Mann (pl. Männer) stammt, aber ebensowenig geschlechtsspezifisch wie das Verb bemannen (wie heißt "die bemannte Raumfahrt" in geschlechtsneutral?) oder die Mannen (nur pl., gerade nicht Männer), die das tun. Wollte man das geschlechtsneutral umgestalten, ist die Lösung aber nicht frau (bzw. jefraud, niefraud, und Fräusch), denn das hat eigentlich nicht die Bedeutung "weiblich", sondern leitet sich aus einem Begriff von Herrschaft (so noch in Fron) ab und heißt eigentlich "Herrin", sondern mensch (und dann jemenschd, niemenschd und -- das kann dann wohl bleiben -- Mensch).

Eine Alternative

Die Verwechslung zwischen grammatischem Genus im Singular und dessen Fehlen im Plural ist aber durchaus nachvollziehbar, da einem Hörer das lexikalische Genus durchaus bewusst sein mag, wenn es auch als grammatische Kategorie im Plural nicht existiert. Und hier setzt mein Vorschlag an: Ändern wir das lexikalische Genus, durch tagtäglichen Gebrauch, aber ohne Gewalt gegen die Sprache: Anstatt den Plural mit Hilfe einer phonologisch unmöglichen und orthographisch (und technisch, denn * ist in der Informationstechnologie i.d.R. kein Buchstabe, sondern ein regulärer Ausdruck) schwierigen Teil-Derivation zu überfrachten, hat das Deutsche alle Mittel, eine geschlechtsspezifische Grundform für den Singular zu bilden, deren Plural mit den bestehenden geschlechtsneutralen Pluralformen übereinstimmt. Das lexikalische Genus des Plural ändert sich damit durch den aktiven Gebrauch: Verwendet man systematisch den geschlechtsbezogenen Singular ohne Derivationsmorphem, verliert der Plural seine Interpretation als geschlechtsspezifisch und wird in der nächsten Generation als wirklich neutral erworben, ohne dass die Expressivität der Sprache leidet oder ihre Struktur verletzt wird.

Als Grundform mögen die Studenten dienen, ein regulärer -en-Plural zu einem maskulinen Student. Der -en-Plural ist aber auch die reguläre Form von Feminina wie Ente. Aus dieser Analogie kann man einen femininen Singular *Studente bilden. Das Paradigma wäre dann Student m., Studente f., Studenten pl. (=mf.) Kein Genderstern notwendig, keine Geschlechterdiskriminierung, keine grammatische Form, die das Deutsche so nicht schon vor hundert Jahren kannte. Der Unterschied zur Anpassung der Pluralformen besteht darin, dass das hier allein mit Mitteln der Flexionsmorphologie gelöst werden kann, keine Derivation notwendig ist und wir mit Formen operieren können, die vielleicht ungewöhnlich sind, aber zumindest nicht ungrammatisch. Dies erweitert traditionelle Methoden geschlechtsneutraler Bezeichnungen, die für deverbale Nomen und Adjektive existieren um geschlechtsneutrale Bezeichnungen für Wurzelnomen und Lehnworte.

Für all das lässt sich sogar eine diachrone Basis finden. Das deutsche -e in femininen Nomen geht i.d.R. auf ahd. -(i)a zurück. Die Studente entspräche also einer lateinischen *student-ia. Die mag es als Wort so in antiker Zeit nicht gegeben haben, sie ist aber auch im Lateinischen grammatisch möglich. Analog für Plurale auf -e wie in Kühe ("f.") oder Ärzte ("m."). Der feminine Singular wäre dann die Arzt (analog zu Kuh), usw. Schön ist, dass man weiter Ich bin Arzt sagen kann ohne ein Geschlecht zu diskriminieren. Man darf dann aber auch Ich bin die Arzt sagen ... Was machen wir mit den Agentiva auf -er? Historisch stammen die weitgehend aus dem Lateinischen -ârius. Dem entspricht ein feminines -âria. Das hätte -er(e) ergeben müssen. Femininer Singular zu Bauern wäre dementsprechend Bauere (oder Bauer), der Plural Bauern ist nicht vollkommen systematisch, weil man Baueren neben Bauern erwarten würde, aber wir haben eine analoge Alternation zwischen Herrn und Herren, so dass das noch immer regelhaft wäre.

Natürlich gibt es ein paar Stellen, wo das so nur bedingt funktionieren wird: einen femininen Singular für Schüler zu bilden ist schwierig, denn letztlich wäre das (wenn der Plural Schüler erhalten bleiben soll) wohl die Schüler. Hier gibt es Verwechslungspotential zwischen Singular und Plural, aber es bleiben ja auch noch alternative Strategien, deverbale Nominalisierungen auf Basis von Partizipien, die Lernende beispielsweise. Ich bin insgesamt kein großer Freund einer präskriptiven Sprachpolitik -- und darauf läuft das genderneutrale Sprechen hinaus --,  denn das widerspricht Grundannahmen der modernen Linguistik, die sich eher bemüht, den Sprachgebrauch zu verstehen als ihn zu korrigieren, aber wenn es denn unbedingt sein soll, sind diese beiden Strategien -- Umschreibung durch Partizipialbildungen und Bildung geschlechtsspezifischer Singularformen für beide Geschlechter -- zumindest etwas, dass man aus sprachwissenschaftlicher Hinsicht als mininalintensiven Eingriff bezeichnen könnten. Ganz anders als der Gender-Stern.

Andererseits handelt es sich hierbei auch um eine diskrete Innovation, keine lauthals schreiende (= das Sprachgefühl verletzende), weshalb ich nicht davon ausgehe, dass das irgendeine Aussicht auf politischen Erfolg hat. Der Feminismus kann so ein bisschen Schreien ruhig gebrauchen, wenn man sich auch mehr Konkretes wünschen würde. Und so werden wir wohl weiter den Zwiespalt zwischen Grammatik und Politik ertragen müssen. Noch besser wäre freilich, die Energie für diesen Kampf um Worte würde tatsächlich in die Politik fließen.

Samstag, 15. Februar 2020

Kanaldeutsch

Ich habe in den letzten Tagen einige Wikipedia-Seiten zu niederdeutschen Dialekten aufgeräumt und erweitert und bei der Gelegenheit wieder einmal die Seite zum "Eberswalder Kanaldeutsch" angeschaut. Das ist ein ganz interessanter Fall, weil es zum einen ein regional tief verwurzelter Begriff ist (und damit als kulturgeschichtlich relevant eingestuft werden kann, obwohl er in dieser engen geographischen Bestimmung eigentlich nicht sprachwissenschaftlich relevantes bezeichnet), zum anderen aber in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Entwicklung und Wandlung erfahren zu haben scheint. Als ehemaliger Eberswalder kann ich das nur in Ansätzen nachvollziehen, versuche es aber dennoch. Man möge mich korrigieren ;)

Eberswalde ist eine Kreisstadt in Brandenburg mit einer fast 800-jährigen Geschichte. Gegründet während der Ostkolonisation, war die Sprache im Mittelalter das märkische Mittelniederdeutsch, und wie alle brandenburgischen Dialekte von niederfränkischen Einflüssen geprägt. Es gibt mittelniederdeutsche Urkunden aus der Stadt und ihrer Umgebung, die aber nicht unbedingt die gesprochene Sprache widerspiegeln (ebensowenig wie dies die zuvor genutzte lateinische oder die danach genutzte hochdeutsche Kanzleisprache taten). Authentische Zeugen der Sprache der Kolonisationszeit sind am ehesten Ortsnamen, die entweder (als Neubildungen) die Sprache der Zeit wiederspiegeln oder (als Übertragungen) die Herkunftsregion der Siedler. Freilich liegen zwischen der ersten Nennung der Ortsnamen und der Kolonisation bis zu 200 Jahre, denn erst mit der Systematisierung des Steuerwesens (Landbede) wurden Ortsnamen flächendeckend erfasst (zu den Ortsnamen des Barnim siehe Enders 1980). Neben dem Mittelniederdeutschen bestand noch einige Zeit das Slawische fort (daher einige Lehnworte, wie z.B. Kiez), wurde letztlich aber assimiliert.
Mit den aus Süddeutschland stammenden Hohenzollern und dem Niedergang der Hanse setzte sich in den Urkunden seit dem 15.Jh. zunehmend die hochdeutsche Kanzleisprache in Brandenburg durch, zunächst aber ohne sich auf die gesprochene Sprache auszuwirken. Während des Dreißigjährigen Krieges wurde Brandenburg stark entvölkert und im 17. und 18. Jh. beispielsweise durch Glaubensflüchtlinge (u.a. Franzosen und Pfälzer) oder durch staatliche Umsiedlungsprojekte wieder aufgesiedelt (im Fall von Eberswalde beispielsweise auch durch Thüringer, die sog. Ruhlaer Messerschmiede), so dass hier zahlreiche, sehr unterschiedlich geartete, auch hochdeutsche Sprachinseln entstanden und miteinander interagierten. Im Zuge der Aufklärung und der Etablierung der neuhochdeutschen Schriftsprache war seit dem 18.Jh. das Hochdeutsche (neben dem Französischen) eine Prestigevarietät, die die örtlichen Dialekte zurückdrängte, zumindest das Umland war aber noch bis ins 19.Jh. durchweg niederdeutsch geprägt. Das ist u.a. daran zu erkennen, dass die modernen Ortsnamen der Dörfer (die erst im 19.Jh. standardisiert wurden) i.d.R. niederdeutsche Lautung zeigen. (Die Namen von Regionalzentren wurden schon seit dem 16. Jh. standardisiert und zeigen durchweg hochdeutsche Lautung.) Dies gilt insbesondere für sämtliche Ortsnamen auf -ow (Niederfinow, Melchow, Tornow), denen hochdeutsch -au (Prenzlau, dialektal Prenzlow; Bernau) entspricht. (-ow geht entweder auf Zusammensetzungen mit mittelniederdeutsch ouwe "Aue" zurück, so in Bernau zu mittelniederdeutsch bernen "brennen", oder auf das slawisches Derivationsmorphem -ov-, das Zugehörigkeit ausdrückt, so in Tornow, vgl. bulgarisch Târnovo. Beide sind lautlich seit dem Mittelniederdeutschen ununterscheidbar.)

Im späten 18.Jh. muss man daher in etwa mit folgender Sprachsituation rechnen: Im Umland mehrheitlich niederdeutsch, v.a. in der Stadt unterschiedliche Einwohnergruppen mit niederdeutscher, hochdeutscher oder französischer Umgangssprache, sowie dem Hochdeutschen als Prestigevarietät, die auch in den Schulen gelehrt wird. Um 1900 beschrieb Alexander Giertz in seiner Geschichte von Petershagen die Sprachsituation auf dem Barnim wie folgt:
Nur spärlich vernimmt man noch den Barnim`schen alten Dialekt („Platt“) in unsern Orten, und das Berliner Norddeutsch hat seinen Siegeszug bald vollendet. So lange Ruhe des Lebens unsere Bewohner umgiebt oder der Verkehr mit einem „Fremden“ sie dazu reizt, wird Berliner oder Schuldeutsch („hochdeutsch“) gesprochen; es ist gleichsam die Redeweise des Nachdenkens oder der ruhigen Ueberlegung. Aber wenn das Gleichmaß überschritten ist und die Herzen warm werden — wenn die Debatten einer wichtigen Tagesordnung die Gemüther erhitzen, oder es sich um die Vorzüge und Mängel eines Viehstückes handelt, dann erklingt noch häufiger der alte fast niederdeutsche Dialekt. Man möchte annehmen, daß der Sprechende in seinem Innern überhaupt noch alles „niederdeutsch“ denke und überlege und nur im Eifer keine Zeit finde, es vor dem Aussprechen in`s „Hochdeutsche“ zu übertragen. Ja, ich glaube sogar, für diese Annahme einige Beweise gefunden zu haben. Dahin ist vor allen Dingen die Erscheinung zu rechnen, daß außerhalb seiner Kreise der Durchschnitts⸗Landmann in hochdeutsch redenden Versammlungen nicht gern das Wort ergreift. Er könnte seine Gedanken und seine durch Erfahrung gereiften Ansichten sehr wohl fließend vortragen; aber es müßte in seiner Sprache und vor allen Dingen in den ihm gewandten Bildern und Vergleichen geschehen, die häufig mit dem „Hochdeutschen“ sich nicht decken — darum schweigt er lieber. Ebenso verhältnißmäßig schwer ist es ihm und seinen Kindern, sich ein Gedicht im Schuldeutsch verstanden einzuprägen und dementsprechend richtig ausgedrückt wiederzugeben; es fehlt dann die rechte Betonung als Beweis des Verständnisses und da, wo durch die Bemühungen des Lehrers ein Kind etwa den Nachdruck auf die rechten Worte legt, merkt man, daß es Kunst ist und nicht Natur. Endlich nehme ich für meine Annahme auch die Thatsache in Anspruch, daß die Eltern mit den Kindern im Hause vorläufig noch barnimisch reden und sie demgemäß auch so denken lehren. Man merkt dies an den verunglückten Versuchen der kleineren Kinder, bei gewordenen Aufträgen und Bestellungen sich dem Empfänger gegenüber hochdeutsch zu geben. Wenn eine Mutter ihrem Kinde zuruft: „Draach` den Mahn (Mohn) hin!“ und das Kind die Ablieferung mit den Worten begleitet: „Ich bringe hier den Mond!“ — so hat der kleine Bringer einen Bock geschossen, welcher ihm in niederdeutscher Ausdrucksweise sicher nicht vorgekommen wäre.

Es ist selbstverständlich, daß dergleichen Beobachtungen heute nicht mehr in jedem Orte des vielgearteten Barnim gemacht werden können; die nähere Umgebung Berlins ist vielfach oder ganz von der Sprache der Hauptstadt beeinflußt und am meisten die „Vorortlinien“. Ja, diese Mundart ist stellenweise sogar schon weit vorgerückt) und ihre Strahlen haben bereits die Südgegend von Prenzlau (Ukermark) erreicht. Sie wandert seit längerem schon über die Nordgrenze des Niederbarnim auf Neustrelitz zu, ebenso bis mitten in`s Havelland und Zauche⸗Teltow; auch Wriezen hört sie von Berlin aus in nordöstlicher Richtung über den Oberbarnim heranrücken.
Alexander Giertz (1900), Geschichte von Petershagen (Ortschronik), S.134f. (der digitalen Edition) 
Die niederdeutschen Dialekte haben im Barnim tatsächlich bis ins 20.Jh. überlebt, dominant ist aber eine berlinisch geprägte mitteldeutsche (hochdeutsche) Umgangssprache, die in der Region als "Eberswalder Kanaldeutsch" oder "Finower Kanaldeutsch" bezeichnet wird. 

Die Bezeichnung "Eberswalder Kanaldeutsch" ist angeblich erstmals von Rudolf Schmidt (1938), Oberbarnimer Wanderbücher, Bd. 6(1) erwähnt. Diese Information stammt aus der Wikipedia, ist aber unverizifiert, denn es gibt diese Publikation weder digital noch ist sie bei der DNB verzeichnet. Nach Diskussionsseite soll sich in der Geschichtsbibliothek der HU Berlin ein Exemplar befinden. Was es tatsächlich gibt (und zwar auch an der HU), sind seine Oberbarnimer Heimatbücher, aber deren Band 6 ist von 1926 und behandelt nicht Eberswalde. Band 16 allerdings (falls es den geben sollte, mir bekannt ist nur Band 15), wäre regulär 1938 erschienen. Was es aber auch gibt, sind seine Oberbarnimer Kreiskalender, 1922 bis 1942 mit dem Untertitel "Oberbarnim : ein Heimatbuch für Stadt und Land", da könnte das vielleicht eher genannt sein. Soweit sich rekonstruieren lässt, war die Bezeichnung "Eberswalder Kanaldeutsch" spätestens in den 1960er Jahren etabliert. Daneben spricht man (v.a. im Ortsteil Finow) von "Finower Kanaldeutsch". Das ist insofern interessant, als dass Finow erst 1928 entstand, bereits 1970 mit Eberswalde vereinigt wurde und eigentlich stets im Schatten von Eberswalde stand (so sehr, dass der Goldschatz von Eberswalde nicht nach seinem Fundort benannt wird). Wäre der Begriff "Eberswalder Kanaldeutsch" 1928 bereits etabliert gewesen, wäre ein separater Begriff für "Finower Kanaldeutsch" vermutlich nicht eingeführt worden. Wahrscheinlicher ist daher (aber das ist nur meine persönliche Spekulation), dass das "Finower Kanaldeutsch" nicht nach der Stadt Finow benannt ist, sondern nach dem Finowkanal, was auch den Begriff "Kanaldeutsch" erklärt, und dass "Finow(er) Kanaldeutsch" die ursprüngliche Bezeichnung ist. Wenn das nach Gründung der Stadt Finow darauf umbezogen wurde, ist nachvollziehbar, wieso die Eberswalder ihre Umgangssprache nicht von einem Nachbarort herleiten wollten und daraufhin von Eberswalder Kanaldeutsch sprachen.

Der Finowkanal wurde (nach aufgegebenen Vorarbeiten dazu seit dem 17.Jh.) Mitte des 18.Jh. angelegt und war eine wichtige Verkehrsachse zwischen Berlin und der Oder (d.h. der Ostsee), die wesentlich dazu beitrug, dass das Finowtal sich zu einem Zentrum der Metallindustrie entwickelte, in ihrer Bedeutung sehr schön belegt z.B. im Gemälde "Walzwerk Neustadt-Eberswalde" von Carl Blechen (um 1830). In diesem Sinne bestand im 19.Jh. und erkennbar verursacht durch den Kanal permanent intensiver Verkehr zwischen Berlin und der Region um Eberswalde, so dass die berlinische Umgangssprache eine ständige Präsenz in der Region besaß und sich dabei sowohl vom Niederdeutschen als auch den städtischen Varietäten des Hoch- und Mitteldeutschen abgrenzte. Dies wäre eine Erklärung für den Begriff "Kanaldeutsch". Bereits seit 1842 ist Eberswalde auch über die Eisenbahn mit Berlin verbunden und fungierte bis 1898 als Luftkurort, wodurch die Präsenz der Berliner Stadtsprache in der Stadt weiter zunahm. Insofern lässt sich die Entstehung der Sprachvarietät sicher bis ins 19.Jh. zurückverfolgen, die Entstehung des Namens "Kanaldeutsch" vor oder im Zuge der Inbetriebnahme der Eisenbahnverbindung zumindest vermuten, eventuell ursprünglich insbesondere in Abgrenzung zum Schuldeutschen und damit nicht unbedingt positiv gemeint (obwohl der Begriff heute keine negativen Konnotationen hat).

Ist das Kanaldeutsche nun eine eigene Sprache? Definitiv nicht, nicht einmal ein eigenständiger Dialekt, es ist nur die örtliche Ausprägung der Berliner Umgangssprache. Allerdings gibt es einige Besonderheiten. Dazu gehört, dass im Eberswalder Kanaldeutschen der Artikel dat "das" neben oder statt dem berlinischen Artikel det verwendet wird (nicht zu verwechseln mit dit "dies"). Das Berlinische det geht direkt auf das Mittelmärkische zurück, d.h., das Niederdeutsche, das ihm vorausging. Eberswalde allerdings liegt in der Übergangszone zwischen Mittelmärkisch und Nordmärkisch, wo der Artikel dat ist, und dies ist hier bewahrt. Mein Eindruck ist allerdings, dass dit "dies" oftmals statt des einfachen Artikels verwendet wird, begründet vielleicht durch die lautliche Ähnlichkeit zu Berlinisch det. In der Sprache der Generation der heute 60-Jährigen findet sich einiges, was direkt aus dem Niederdeutschen überdauert zu haben scheint und nicht unbedingt aus dem Berlinischen stammt. Dazu gehört z.B. wräuschen "(eine Decke) zerwühlen", wrangeln "balgen (von Kindern)", und Wepse "Wespe" (eventuell Dialekt parodierend). Ein mir nur aus Eberswalde bekannter Neologismus ist Butte für "Tetrapak-Verpackung" (ursprünglich "Faß"). Typisch, aber in ähnlicher Form wie im Berlinischen sind Kontraktionen, z.B. ha'ick (neben habbick oder hab ick) "habe ich" (das Nordmärkische verhält sich hier ähnlich, mit heff'k statt heww(e) ik), kannste "kannst du" (vgl. nordmärkisch/mittelpommersch kast < kast du), hamma (oder hamm'wa) "haben wir" (vgl. nordmärkisch/mittelpommersch hemm'f < hebben wi) usw. Das auf der Wikipedia-Seite genannte Klopsgedicht gibt es hier, ist aber sicherlich Berlinisches Gemeingut. Dies gilt vermutlich auch für die Löwenwitze:

"Warum heeßt der Löwe Löwe? – Wall er durch de Wüste löft (löwt).
Warum heeßt der Tijer Tijer? – Wall er och durch de Wüste löft, aba jewaltijer.
Un warum heeßt die Hyäne Hyäne? – Wall se och durch de Wüste löft, aba im Rudel: Da eene un hie eene …"

Ansonsten gibt es viel typisch Berliner Lexik.

In der Phonologie hat das Kanaldeutsche ein langes ungespanntes e aus dem Niederdeutschen bewahrt, das für den Umlaut des langen a verwendet wird. Es gibt daher einen lautlichen Unterschied zwischen keene "keine" und Kähne, zwischen Lehme und Lähme oder dehnen und Dänen. Im Hochdeutschen gibt es diese Minimalpaare nicht bzw. nur in der Orthographie. Wie in Berlin ist Hochdeutsch ei entweder Kanaldeutsch ee (wenn aus mittelniederdeutsch/mittelhochdeutsch ei) oder ei (wenn aus mittelniederdeutsch/mittelhochdeutsch î). Es heißt daher eene Kleene "eine Kleine" (mnd. eyne kleyne), aber meine Kleene "meine Kleine" (mnd. mine kleyne). So etwas wie "meene Kleene" passiert eigentlich nur Leuten, die versuchen, den Dialekt zu imitieren. Hochdeutsch g wird unterschiedlich behandelt: im Anlaut wird es j (jeben "geben", jut "gut", janz "ganz"), im Inlaut nach hohem Vokal ebenfalls j (fliejen "fliegen"), nach tiefem Vokal gh (wie das uvulare r im Deutschen, Voghel "Vogel", saghen "sagen"). Im Auslauf oder vor Konsonant erscheinen die entsprechenden stimmlosen Varianten (Könich "König" -- das ist auch die schuldeutsche Aussprache, sachste "sagst du"). Im Anlaut vor Konsonant scheint g akzeptabel zu sein, mir ist nicht klar, ob so etwas wie jrün neben grün nicht hyperkorrekt ist.

Abgesehen davon verhält sich das Kanaldeutsche (und das Berlinische) dem Hochdeutschen gegenüber recht regulär. Allerdings gibt es Ausnahmen: In einigen Fällen sind ältere Formen als im Hochdeutschen bewahrt. Mittelhochdeutsch i in offener Silbe wurde zu ie gedehnt, Kanaldeutsch bewahrt aber ville "viele" und widder "wieder". Das kann nicht aus dem Niederdeutschen kommen, da dort ebenfalls Dehnung eintrat (veel "viele"), sondern muss auf die mitteldeutschen Dialekte zurückgehen, die das Berlinische geprägt haben. Einige Worte verhalten sich lautlich atypisch. Das gilt zum Beispiel für oll "alt", was sicherlich eine niederdeutsche Form darstellt, die auch im Berlinischen überdauert hat.

Es gibt relativ viel Reduktion und Assimilation. Die Endungen auf -en werden oft zu -n oder -m (nach b, f, v oder w) verkürzt, loofen "laufen" wird daher eigentlich loofm gesprochen. "Haben wir" ist lautlich im Kanaldeutschen möglich, wird man aber eher als hamma oder hamm'wa hören. Unbetontes -er wird praktisch wie ein unbetontes -a gesprochen (und könnte man auch so schreiben), das gilt auch für Klitika (hamm'wa < *haben wer < haben wir), allerdings nicht für nicht-klitische Einsilber (es heißt der, nicht da). Intervokalische Konsonanten können der Lenition unterliegen. Mudder und Vadder statt "Mutter" und "Vater", ha'ick statt habbick "habe ich". Im Auslaut ist Epenthese möglich: ebent statt eben.


In der Morphologie wurden früher Akkusativ und Dativ oft verwechselt (ebenso wie in Berlin, da im Nord- und Mittelmärkischen zusammengefallen, z.B. in mi "mich; mir"), daher "Mir und mich verwechls'ich nich, das kommt bei mich nich vor." Allerdings ist das heutzutage eher Klischee als Befund. Die Akkusativendung auf -(e)n wird übergeneralisiert (zu Oman gehen).

In der Syntax gibt es, da es sich um eine rein gesprochene Varietät handelt, relativ viel Gebrauch von Interjektionen, z.B. weeßte? Gelegentlich werden dass und damit zu verwechselt, aber das ist evtl. weniger ein Dialektphänomen als vielmehr Ausdruck der Tatsache, dass beides Kausalmarker sind.

Prosodie und Satzmelodie sind etwas speziell und werden (ebenso wie die Sprechweise insgesamt) von Außenstehenden unter Umständen als unfreundlich und offensiv wahrgenommen. Im wesentlichen so wie in den Klischees über Berliner.

Warum nun ist das Kanaldeutsche relevant? Zum einen ist der Begriff von kulturhistorischem Interesse, denn er erzählt eine Geschichte, zum anderen findet sich das Berlinische als das ursprüngliche Modell des Kanaldeutschen seit der Wende in Berlin in Rückzug und Abbau begriffen, bedroht zum einen durch das Standarddeutsche, zum anderen durch neue Soziolekte wie das Kiezdeutsch. Berner (2009) beschreibt den Prestigeverfall des Berlinischen in Ostberlin seit der Wende als einen Effekt der Dominanz der Westberliner Gesellschaft in Berlin. In Brandenburg sind diese Effekte zum einen geringer ausgeprägt, so dass das positive Selbstbild der Sprache eher erhalten geblieben ist. Zum anderen bezog der Begriff des Kanaldeutschen einen Teil seiner Attraktivität während der DDR-Zeit sicherlich auch aus der Abgrenzung gegenüber dem Berlinischen, was die generelle Konkurrenz zwischen Hauptstadt und Umland widerspiegelt, so dass ein Verfall des Berlinischen nicht unbedingt auf die eigene Sprache bezogen wird.

Das Kanaldeutsche selbst scheint sich eher gut zu entwickeln. Das gilt zumindest für die Popularität des Begriffes selbst. In den 1990er Jahren eher umgangssprachlich verwendet, wurde der Begriff in den 2000ern von regionalen Printmedien aufgenommen, es gibt seit 2004 eine eigenständige Wikipediaseite, und der Begriff findet im digitalen Zeitalter zunehmende Verbreitung. Tatsächlich wird "Kanaldeutsch" dabei aber fast immer in Zusammensetzung mit einem Ortsnamen verwendet, zunehmend auch andere als Eberswalde und Finow. Ich kann nicht ermessen, wie alt diese Tendenz ist, und ob es nicht nur ein Artefakt des Social-Media-Zeitalters ist, dass diese Selbstbezeichnungen jetzt aufscheinen, aber ein Grund für die "neuen" ortsbezogenen Kanaldeutsche könnte sein, dass "Eberswalder Kanaldeutsch" bis 1990 immer auch auf den Kreis Eberswalde bezogen werden konnte, nicht nur auf den Ort, dass aber dieser Kreis seit der Wende umstrukturiert und umbenannt wird und man sich deswegen scheut, den eigenen Dialekt mit dem Namens einer Nachbarstadt zu bezeichnen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit verwendet man den Begriff "Kanaldeutsch" z.B. in Schwedt, der Uckermark, Wriezen, oder Freienwalde -- angesichts dieser Fragmentierung, die keinerlei linguistische Basis hat, darf man dann auch wieder gern von Kanaldeutsch insgesamt sprechen, und dann gewinnt der Begriff sogar an linguistischer Relevanz -- als Selbstbezeichnung der nordostbrandenburgischen Varietät des Berlinischen.

Abzusehen ist allerdings auch, dass mittelfristig das Kanaldeutsche das Schicksal des Märkischen teilen und verschwinden wird. Es ist weder genügend eigenständig, prestigeträchtig noch weiträumig, um in einer zunehmend mobilen Arbeits- und Lebenswelt und in einer strukturschwachen Region neben dem Standarddeutschen bestehen zu können. Das macht es aber auch zu einem guten Ansatzpunkt für demonstrativen, trotzigen Lokalpatriotismus, und genau das scheint es zu sein, was die Medienpräsenz verursacht.

Referenzen

Enders, L. (1980). Historisches Ortslexikon für Brandenburg, Teil VI, Barnim. Hermann Böhlaus Nachfolger. Weimar.

Berner, E. (2009). Niederdeutsch–Brandenburgisch–Berlinisch–Standardsprache: Entwicklungstendenzen im regionalen Varietätengefüge. In: Siehr, Karl-Heinz/Elisabeth Berner (Hrg.), Sprachwandel und Entwicklungstendenzen als Themen im Deutschunterricht: fachliche Grundlagen–Unterrichtsanregungen–Unterrichtsmaterialien.–Potsdam: Universitätsverlag Potsdam, 121-140.