Dienstag, 19. November 2024

Die Ukraine: Artikel oder nicht?

In den sozialen Medien findet sich in den letzten Jahren gelegentlich die Behauptung, der Ukraine würde durch die Verwendung des Artikels das politische Existenzrecht abgesprochen und man solle doch besser "aus Ukraine" statt "aus der Ukraine" sagen, denn man sage ja auch nicht "aus dem Deutschland" sondern "aus Deutschland". Wie in den meisten Fällen dieser Art geht die politisch motivierte Sprachpflege an der linguistischen Realität aber vorbei. (Und wie in anderen Fällen ist die Debatte aus dem Englischen importiert, scheint allerdings in diesem Fall nicht wirklich zu verfangen.)

Tatsache ist, dass die meisten Staaten keinen obligatorischen Artikel tragen, aber auch, dass es eine ganze Reihe von anerkannten Staaten gibt, für die wir fast ausnahmslos den Artikel verwenden: der Irak, die Vereinigten Staaten, die Türkei, die Slowakei, die Vereinigten Arabischen Emirate, das Vereinigte Königreich, die Domenikanische Republik, oder historische Bezeichnungen wie die Tschechei (Tschechien) oder die Walachei (Rumänien). Umgekehrt werden auch Regionen, die zweifelsfrei keinen Nationalstaat darstellen (und auch nie eine selbständige staatliche Einheit bildeten), nicht automatisch mit Artikel bezeichnet. Da haben wir Rheinland-Pfalz, Flandern, Galizien -- aber daneben auch die Pfalz, die Uckermark, das Saarland.

Versuchen wir nun, einzuordnen, welche grammatischen und historischen Bedingungen zum Artikelgebrauch führen, entsteht ein Muster, das wesentlich komplexer ist als die naive Sprachregelung "Artikel für Regionen, keiner für Staaten", die hier suggeriert wird:

  • Der definite Artikel ist über einen längeren Zeitraum hinweg enstanden. Wo er im modernen Deutschen fehlt, zeigt das Grammatikalisierungs- oder Lexikalisierungsprozesse an, die auf den Sprachgebrauch aus der Zeit vor der Etablierung des definiten Artikels in seiner heutigen Form zurückgehen und/oder wo die grammatische Funktion eines einfachen Substantivs nicht mehr vorliegt. Dies gilt zum Beispiel für ursprüngliche Nomen, die heute als Verbalpartikel verstanden werden, etwa das Rad in ich fahre Rad, oder für das heute adverbial verstandene ernst in es ist mir ernst. Eine dieser Funktionen ist das Fehlen des obligatorischen Artikels bei Eigennamen wie z.B. von Personen (Peter), den meisten Regionen (Rheinland-Pfalz) und Staaten (Deutschland) oder auch Zeiträumen (Weihnachten, Ostern). Der definite Artikel vor Eigennamen ist im Deutschen i.d.R. möglich (Der Peter kam gestern nach Hause), aber optional und markiert (d.h., es zeigt Sonderbedeutungen oder Emphase an). Das gilt auch für Toponyme, für die der definite Artikel dann z.B. eine deiktische oder einschränkende Funktion erfüllt oder unterstreicht, z.B. in das Berlin der 20er Jahre oder das damalige Deutschland.
  • Eigennamen, die erst vor relativ junger Zeit gebildet wurden, liegt oftmals eine transparente Struktur zugrunde, deren syntaktischer oder morphologischer Kopf ein ursprünglich einfaches Nomen darstellt. In diesen Fällen kann ein Artikel obligatorisch sein, weil er der Standardgrammatik entspricht. Das gilt sicherlich für die Vereinigten Arabischen Emirate (seit 1971), das Vereinigte Königreich (seit 1801), die Vereinigten Staaten (seit 1776), in letzterem Fall übertragen auch auf die eigentlich nicht transparenten Anglizismen US oder USA -- wobei niemand in den letzten 200 Jahren (insbesondere seit 1815 nicht einmal mehr Großbritannien) den USA die Eigenstaatlichkeit würde absprechen wollen. In diese Gruppe fallen auch einige Regionen, deren Namen sich erst in relativ junger Zeit gebildet hat, wie etwa das Saarland (nach 1798, als deutsche Übersetzung von Departement Sarre). Die Ukraine ist ebenfalls ein relativ junges staatliches Gebilde (1917) und könnte demnach in diese Kategorie fallen, und dieser Gedanke ist, was einigen Sprachpflegern aufzustoßen scheint -- allerdings ist der Terminus Ukraine für Muttersprachler des Deutschen nicht transparent, weshalb das ein Trugschluss ist. 

Bei Staats- und Regionsbezeichnern, die vor 1800 bereits etabliert waren, oder die nicht grammatisch transparent sind und auf Entlehnung beruhen, zeichnet sich ein anderes Muster ab, in diesem Fall ein grammatisches. Hier scheint es ausnahmslos das Genus zu sein, das über den Artikel entscheidet: Landesbezeichner im Neutrum tragen keinen Artikel, für Feminina und Pluralformen ist er obligatorisch und für Maskulina präferiert (oder obligatorisch):
 
  • Neutra tragen keinen Artikel, auch wenn sie morphologisch transparent sind (Island, Frankreich, Österreich, Deutschland), völlig unabhängig von ihrer historischen Eigenstaatlichkeit (Grönland, Holland, Gotland, Jütland).  
  • Feminina tragen einen obligatorischen Artikel, egal ob grammatisch transparent (die Domenikanische Republik) oder nicht (die Schweiz). Dies gilt für sämtliche Regions- und Landesbezeichner auf -ei (die Mongolei, die Slowakei, die Türkei, die Tschechei, die Walachei; alle f.; auch lokale Ortsbezeichner wie Holländerei f.), für andere alte Regionsbezeichner (die Uckermark f.; jedoch Dänemark n.) und auch für Lehnworte (die Kiewer Rus f.; jedoch Russland n.). In diese Gruppe fällt auch die Ukraine.
  • Pluralformen tragen einen obligatorischen Artikel. Neben den jüngeren Vereinigten Arabischen Emiraten, den Vereinigten Staaten oder Inselgruppen wie den Bahamas, den Malediven oder den Seychellen beinhaltet das insbesondere die (im Deutschen) wesentlich älteren Niederlande (jedoch Holland n.).
  • Maskulina tragen den definiten Artikel. Für Staaten beinhaltet das v.a. Lehnworte (der Irak m., der Iran m., der Jemen m., der Kongo m., der Sudan m., der Tschad m., der Vatikan m.; jedoch Taiwan n., Tadschikistan n. usw.). Allerdings erodiert das Muster etwas, und eine Verwendung ohne definiten Artikel gab es bereits Ende des 20.Jh z.B. für Iran, Irak und Tschad -- allerdings stets weniger häufig, vgl. die DWDS Verlaufskurven für "aus (dem) Tschad", "aus (dem) Irak" und "aus (dem) Iran". Für alte Regionsbezeichner ist der Artikel obligatorisch (der Fläming).
In diesem Sinne erfordert die Grammatik (d.h., das feminine Genus) der Ukraine die Verwendung des definiten Artikels -- völlig unabhängig von den jeweiligen Ansichten zur historischen, ethnischen oder nationalen Eigenständigkeit der Ukraine. Und in diesem Fall ist die Verwendung des Artikels nicht nur präferiert, sondern obligatorisch, denn ein den Maskulina vergleichbarer Erosionsprozess lässt sich für Femina nicht beobachten: "aus Ukraine", "aus Slowakei", "aus Türkei" sind zwischen 1850 und 2000 praktisch unbelegt.
 
Tatsächlich gibt es aber durchaus traditionelle Neutra, die Vorläufergebilde der Ukraine bezeichneten und absolut folgerichtig ohne Artikel verwendet werden sollten. Ironischerweise ist eines davon Kleinrussland. Ein anderes wäre Ruthenien. Beides geht auf die Rus zurück, auf die sich auch die Bezeichnung Russland bezieht, und beide decken sich historisch nicht mit dem heutigen Staatsgebiet der Ukraine, insofern sind sie nicht sonderlich geeignet, den Anspruch auf nationale Selbständigkeit der Ukraine in den heutigen Grenzen zu untermauern. 
 
Vielleicht bleiben wir doch besser bei der Ukraine, aber dann mit dem Artikel, den die Grammatik erfordert, und bitte ohne präskriptive Sprachpolitik.

Freitag, 6. November 2020

Alternativen zum Gender-Sternchen

Um es vorwegzuschicken, ich bin kein Antifeminist, und Bemühungen, Geschlechterdiskrimierung in Sprache und Gesellschaft zu beseitigen, stehe ich positiv gegenüber. Klar ist freilich auch, dass Formen der Geschlechterdiskriminierung mit Bezug auf Verdienst, Aufstiegsmöglichkeiten und persönliche Entscheidungsfreiheit (§218) eigentlich dringendere Probleme sind, denn hier besteht konkreter Handlungsbedarf. Geschlechterneutralität auf der Ebene bloßer Worte ist allerdings etwas, das allen Beteiligten einen bequemen Ausweg gibt, es verursacht weder große Kosten noch Veränderung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, es wälzt die Problematik von der Gesellschaft auf das Individuum ab und es ist ein vergleichsweise leicht zu erringender Sieg, der denen, die eine Veränderung brauchen, zumindest signalisiert, dass sie wahrgenommen werden.

Aber ich bin auch Linguist und Muttersprachler des Deutschen, und ein Großteil der Versuche, Geschlechtsneutralität in der Sprache umzusetzen (https://geschicktgendern.de/tag/genderstern/), sind einerseits weitgehend unwissenschaftlich und andererseits wirklich eine Verletzung des Sprachgefühls. Und mit Sprachgefühl meine ich nicht etwa ein diffuses Unbehagen mit einer ungewohnten Aussprache, etwa der Pausen-Sprechung des Gender-Sternchens (Mitarbeiter*innen, also Mitarbeiter-hicks-innen) sondern empirisch nachweisbare Prozesse in der Lautstruktur des Deutschen, die historisch seit mehreren hundert Jahren wirksam sind, und die eine solche Aussprache eigentlich verbieten. 


Silbenstruktur des Deutschen

Allgemein beschreibt man die Silbenstruktur einer Sprache als eine Sequenz von Konsonanten (C) und Vokalen (V). Das Japanische ist beispielsweise bekannt dafür, eine sehr einfache Silbenstruktur zu verwenden, in denen eine Silben (bis auf wenige Ausnahmen) stets auf einen Vokal enden, die Silben haben also fast alle die Struktur CV (ein Konsonant, gefolgt von einem Vokal). Im Deutschen ist das etwas komplizierter, wir können mehrere Konsonanten vor einem Vokal haben (etwa CCCV in Stroh), oder auch mehrere Konsonanten nach einem Vokal (etwa CCVCC in plump), was es aber nicht gibt, sind Silben, die mit einem Vokal beginnen. Freilich gibt es Worte, die mit einem Vokal beginnen, aber vor dem Vokal ergänzt das Deutsche dann einen Konsonanten, den wir in der Orthographie nicht schreiben, den Kehlverschluss (Glottalstop, phonetisch geschrieben ʔ). Auch ein Wort wie Ah! hat daher die Silbenstruktur CV. Allerdings ist der Glottalstop im Deutschen auf genau diese Funktion festgelegt (weshalb sein Status als vollwertiger Konsonant manchmal bezweifelt wird) und kann insbesondere nicht im Wortinneren auftreten. 

Daraus folgt, dass die Silbenstruktur von Bürger*innen, wenn sie mit ʔ gesprochen wird, schlicht ungrammatisch ist. Die Aussprache des Gendersternchens durch eine Pause ist aber genau das, ein Glottalstop mitten in einem Wort. Um zu verdeutlichen, was hier mit ungrammatisch gemeint ist, können wir Fälle heranziehen, in denen ein Glottalstop im Wortinneren eigentlich zu erwarten wäre, und wie das Deutsche mit solchen Konstellationen umgeht. Um es vorwegzunehmen: Sie werden beseitigt, und zwar systematisch und seit Jahrhunderten.
 

Der Hiat im Deutschen

Der typische Kontext, in dem ein Glottalstop im Deutschen organisch zu erwarten wäre, ist, wenn ein Wort mit finalem Vokal durch ein Morphem ergänzt wird, das mit Vokal (bzw. Glottalstop) beginnt. In der Sprachwissenschaft wird das Zusammentreffen von Vokalen zweier Silben als Hiat ("Lücke") bezeichnet. Wir haben einen solchen Fall z.B. in der Flexion. Betrachten wir das Wort Vieh, Plural kann im Deutschen unterschiedlich gebildet werden, beispielsweise durch -er (wie Häuser zu Haus), und das wird auch hier verwendet. Allerdings gibt es Vieher nicht, sondern nur Viecher. Der Hiat wird durch einen Konsonanten ersetzt. In diesem Fall hat dieser Konsonant auch eine etymologische Basis. In anderen Fällen aber nicht. Betrachten wir die Frau, reguläre Pluralbildung mit -en (wie in Herren zu  Herr). Geschrieben sieht Frauen durchaus nach Hiat aus, allerdings gibt es keinen Glottalstop. Der Grund dafür -- teilweise verschleiert durch die Diphthongierung von mhd. û zu au -- ist die Einführung eines Gleitlautes. Im Mittelhochdeutschen wird das deutlich durch Schreibungen mit w wie in frouwen, im Neuhochdeutschen ist der Gleitlaut mit der zweiten Hälfte des Dipthongs zusammengefallen (und könnte sogar eine Rolle bei der Entstehung der Dipthongierung gespielt haben). In Varietäten ohne Diphthongierung waren die Strategien zur Hiatvermeidung noch deutlich aggressiver. Im Nordmärkischen beispielsweise wurde hier ein g eingesetzt. Daher dort dann Fru - Fruggen. 

Die Vermeidung von Glottalstops im Wortinneren ist demnach schon seit Jahrhunderten aktiv, und sie dauert an. Tatsächlich gibt es in jüngeren Formen einen scheinbaren Hiat. Die Jenaer (Einwohner von Jena) mögen hier genannt sein. Das wird (zumindest in meiner Aussprache) aber ohne Glottalstop gesprochen, sondern ich habe da einen Hauchlaut, etwa h. Der ist in diesem Fall auch etymologisch plausibel, denn -a stammt aus älterem -ach (für einen Fluß). Dass das nicht in die Schreibung gelangt ist, mag damit zusammenhängen, dass die Form Jenaer vermutlich nicht über die Aufklärung hinausgeht, und dass die ursprüngliche Selbstbezeichnung wahrscheinlich wohl eher Jensche gewesen sein dürfte. 

Eine andere Quelle für einen Hiat sind Lehnworte aus Sprachen, in denen das eher zulässig ist. Klassisches Beispiel dafür ist der Neandertaler. Natürlich ist Neander- kein deutsches Wort, sondern Griechisch ("Neumann"), deswegen zählt das hier nur bedingt, aber (zumindest in meiner Aussprache) artikuliere ich da keinen Glottalstop, sondern einen (schwach artikulierten) Gleitlaut (etwa j). Die Einführung von Gleitlauten aber ist genau derselbe Prozess, der schon im Mittelhochdeutschen nachweisbar ist, und wahrscheinlich ähnlich alt wie andere Besonderheiten des Deutschen wie z.B. die Auslautverhärtung (das ist das, was es uns schwer macht, den Unterschied zwischen Englisch bad und bat zu artikulieren). Die ist in der Orthographie bereits seit gut tausend Jahren nachweisbar.

Zusammengefasst ist stark anzuzweifeln, dass eine Aussprache, die sowohl fundamental mit der Phonologie des Deutschen kollidiert als auch nicht durch einflussreiche Kontaktsprachen gestützt wird (das Englische besitzt keinen Glottalstop), sich mittelfristig durchsetzen kann. Selbst wenn sich das offiziell etabliert, ist zu erwarten, dass der Glottalstop sehr bald abgeschliffen und assimiliert wird, und dass er entweder entfällt (nach Konsonant) oder sich in einen Gleitlaut verwandelt (nach Vokal). Und damit ist das Ergebnis, dass Bürger*innen letztlich genauso gesprochen wird wie Bürgerinnen. Ich persönlich kann grundsätzlich damit auch in der gesprochenen Sprache leben (solange nicht ausschließlich männliche Personen damit bezeichnet werden sollen), aber das führt auf ein anderes Problem, die Ersetzung geschlechtsneutraler durch geschlechtsspezifische (weiblicher) Begriffe.

Brauchen wir ein generisches Femininum?

Die Wurzel des Problems ist ein anderes, nämlich eine Reihe fundamentaler Missverständnisse über die Natur des grammatischen Geschlechts, denn das hat mit dem natürlichen Geschlecht eigentlich relativ wenig zu tun. Ein Becher ist nicht grundsätzlich männlicher als ein Glas oder eine Flasche, eine Bohle nicht grundsätzlich weiblicher als ein Brett oder der Baum aus dem sie gemacht sind. Das sind letztlich arbiträre grammatische Kategorien. Sie überlappen allerdings teilweise mit dem biologischen Geschlecht. Dafür gibt es sprachhistorische Gründe, allerdings auch praktische, denn wir können das grammatische Genus verwenden, um effektiver und eindeutiger zu sprechen. 

Nehmen wir folgendes Beispiel:

Der Junge hat den Kleinen geschubst. Er ist dann davongelaufen. 

Hier ist unklar, wer eigentlich wegläuft. Meist wird das wohl so verstanden werden, dass der Täter weggelaufen ist, denn Personalpronomen tendieren dazu, sich auf das Subjekt zu beziehen, aber diese Interpretation ist nicht zwingend. Man kann das deutlicher machen, indem man sagt, Der ist dann davongelaufen, denn das Demonstrativpronomen bezieht sich eher auf das Nicht-Subjekt, oder man kann noch einmal Der Kleine sagen. Das grammatische Genus erlaubt uns aber auch etwas anderes, nämlich, dem Opfer ein anderes Genus zu geben, um es so eindeutig zu identifizieren, ohne mehr (der Kleine) oder umgangssprachlicher (der) sprechen zu müssen:

Der Junge hat das Kind geschubst. Es ist dann davongelaufen. (eindeutig das Opfer)
Der Junge hat das Kind geschubst. Er ist dann davongelaufen. (eindeutig der Täter)

Das ist genau (und nur) deswegen möglich, weil das grammatische Genus nicht mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmt und wir einer Person durch gezielte Wahl sprachlicher Mittel unabhängig vom biologischen Geschlecht ein anderes grammatisches Geschlecht zuweisen können.

Genusdifferenzierung ist daher etwas ausgesprochen nützliches, und darauf zu verzichten (etwa dadurch, dass man Pronomina beider Formen abwechselnd verwendet) ist nicht nur verwirrend, sondern unökonomisch. (Und wird sich vermutlich schon deswegen nicht in der Sprachpraxis durchsetzen.) Man könnte die Pronomen grundsätzlich standardisieren, allerdings verliert man dann die Möglichkeit, dadurch zu disambiguieren. Auch das macht das Sprechen weniger effizient und wird langfristig nur haltbar sein, wenn sich alternative Strategien zur Differenzierung entwickeln. Diese sind durch präskriptiven Sprachgebrauch aber kaum zu erreichen. Sie entstehen gewissermaßen von selbst, wenn in einer Sprache Formen der beiden Paradigmen ganz oder teilweise zusammenfallen. (Im Schwedischen etwa ließ sich hen dadurch motivieren, dass es die Grundform der Personalpronomina han f. und hon m. mit dem Vokal des Neutrums den/det zusammenfügte.) Das ist im Deutschen nicht der Fall -- zumindest nicht im Singular.

Ganz anders ist das im Plural. Weder Pronomen noch die Flexion von Adjektiven oder Substantiven unterstützen die Annahme eines grammatischen Genus in der deutschen Pluralmorphologie. Gewissermaßen behandeln wir (in morphologischer Hinsicht) den Plural wie ein viertes Genus: Maskulinum, Femininum, Neutrum und Plural. Sprachübergreifend wäre hierbei vielleicht besser, von Nominalklassen zu sprechen (wie etwa im Bantu) und sie durchzunummerieren, aber es gibt eine Tradition der Grammatikbeschreibung, sie mit geschlechtsbezogenen Begriffen zu bezeichnen.

Dieser Begriff des grammatischen Geschlechts ist nun freilich zu trennen von zwei anderen. Einerseits haben Substantive, die eine Singularform haben, ein lexikalisches Geschlecht. Es ist im Plural nicht morphologisch markiert, aber Bestandteil der Wortsemantik und im Singular erkennbar. Andererseits besitzen Menschen, verschiedene Tiere und unbelebte Dinge ein erkennbares natürliches Geschlecht, das einerseits belebte und unbelebte Dinge (+- animate/human) und andererseits das biologische Geschlecht (männlich / weiblich) unterscheidet. Diese korrespondieren nur eingeschränkt mit dem Genusbegriff der Sprache, aber es gibt durchaus Korrelationen. 

Darüber hinaus besitzen aber nicht nur Lexeme ein lexikalisches Geschlecht, sondern auch Morpheme. In der Derivation wird das lexikalische Genus des Stammes durch das grammatische Genus des Morphems ersetzt, so dass Diminuitiva (Mädchen, Männchen, Weibchen, Frauchen, Herrchen) durchweg grammatisch neutral (biologisch unbelebt???) sind, Abstrakta (Schönheit, Aufrichtigkeit; Anhörung) feminin (biologisch weiblich???), Agentiva (Lehrer, Hörer) maskulin (biologisch männlich???) usw. Neben der Verwechslung zwischen grammatischem und biologischem Geschlecht zielt der Versuch der Korrektur mit Hilfe des Gender-Sternchens nun darauf ab, Geschlechterungleichheit durch Derivation zu korrigieren. Grammatische Geschlechtsneutralität setzt dabei allerdings voraus, dass man sich auf Gruppen von Menschen bezieht -- nur besitzt der Plural gar kein grammatisches Genus. Sinn macht eine Genuskorrektur durch Derivation daher nur dann, wenn Individuen angesprochen werden. Hier kann durchaus Geschlechtsunsicherheit bestehen (und dann kann man immer eine Umschreibung finden oder notfalls auf Neubildungen wie ersie oder dialektale Formen wie de  [niederdeutsches Demonstrativpronomen und Artikel nom.sg.fm. und nom.pl.] zurückgreifen), aber wo das nicht der Fall ist, ist der Genderstern schlicht unnötig.

Ein letztes Missverständnis liegt darin, dass viele heute als maskulin wahrgenommene Formen eigentlich geschlechtsneutral sind. Das gilt nicht zuletzt für die Wurzel man(n) in man. Wäre das geschlechtsspezifisch, dürften abgeleitete Formen wir jemand, niemand und Mensch (das man etymologisch korrekt eigentlich Männsch schreiben müsste < *mannisko-) eigentlich nicht mit der neutralen Bedeutung existieren, in der wir sie kennen. All das ist tatsächlich von derselben Wurzel abgeleitet, von der auch Mann (pl. Männer) stammt, aber ebensowenig geschlechtsspezifisch wie das Verb bemannen (wie heißt "die bemannte Raumfahrt" in geschlechtsneutral?) oder die Mannen (nur pl., gerade nicht Männer), die das tun. Wollte man das geschlechtsneutral umgestalten, ist die Lösung aber nicht frau (bzw. jefraud, niefraud, und Fräusch), denn das hat eigentlich nicht die Bedeutung "weiblich", sondern leitet sich aus einem Begriff von Herrschaft (so noch in Fron) ab und heißt eigentlich "Herrin", sondern mensch (und dann jemenschd, niemenschd und -- das kann dann wohl bleiben -- Mensch).

Eine Alternative

Die Verwechslung zwischen grammatischem Genus im Singular und dessen Fehlen im Plural ist aber durchaus nachvollziehbar, da einem Hörer das lexikalische Genus durchaus bewusst sein mag, wenn es auch als grammatische Kategorie im Plural nicht existiert. Und hier setzt mein Vorschlag an: Ändern wir das lexikalische Genus, durch tagtäglichen Gebrauch, aber ohne Gewalt gegen die Sprache: Anstatt den Plural mit Hilfe einer phonologisch unmöglichen und orthographisch (und technisch, denn * ist in der Informationstechnologie i.d.R. kein Buchstabe, sondern ein regulärer Ausdruck) schwierigen Teil-Derivation zu überfrachten, hat das Deutsche alle Mittel, eine geschlechtsspezifische Grundform für den Singular zu bilden, deren Plural mit den bestehenden geschlechtsneutralen Pluralformen übereinstimmt. Das lexikalische Genus des Plural ändert sich damit durch den aktiven Gebrauch: Verwendet man systematisch den geschlechtsbezogenen Singular ohne Derivationsmorphem, verliert der Plural seine Interpretation als geschlechtsspezifisch und wird in der nächsten Generation als wirklich neutral erworben, ohne dass die Expressivität der Sprache leidet oder ihre Struktur verletzt wird.

Als Grundform mögen die Studenten dienen, ein regulärer -en-Plural zu einem maskulinen Student. Der -en-Plural ist aber auch die reguläre Form von Feminina wie Ente. Aus dieser Analogie kann man einen femininen Singular *Studente bilden. Das Paradigma wäre dann Student m., Studente f., Studenten pl. (=mf.) Kein Genderstern notwendig, keine Geschlechterdiskriminierung, keine grammatische Form, die das Deutsche so nicht schon vor hundert Jahren kannte. Der Unterschied zur Anpassung der Pluralformen besteht darin, dass das hier allein mit Mitteln der Flexionsmorphologie gelöst werden kann, keine Derivation notwendig ist und wir mit Formen operieren können, die vielleicht ungewöhnlich sind, aber zumindest nicht ungrammatisch. Dies erweitert traditionelle Methoden geschlechtsneutraler Bezeichnungen, die für deverbale Nomen und Adjektive existieren um geschlechtsneutrale Bezeichnungen für Wurzelnomen und Lehnworte.

Für all das lässt sich sogar eine diachrone Basis finden. Das deutsche -e in femininen Nomen geht i.d.R. auf ahd. -(i)a zurück. Die Studente entspräche also einer lateinischen *student-ia. Die mag es als Wort so in antiker Zeit nicht gegeben haben, sie ist aber auch im Lateinischen grammatisch möglich. Analog für Plurale auf -e wie in Kühe ("f.") oder Ärzte ("m."). Der feminine Singular wäre dann die Arzt (analog zu Kuh), usw. Schön ist, dass man weiter Ich bin Arzt sagen kann ohne ein Geschlecht zu diskriminieren. Man darf dann aber auch Ich bin die Arzt sagen ... Was machen wir mit den Agentiva auf -er? Historisch stammen die weitgehend aus dem Lateinischen -ârius. Dem entspricht ein feminines -âria. Das hätte -er(e) ergeben müssen. Femininer Singular zu Bauern wäre dementsprechend Bauere (oder Bauer), der Plural Bauern ist nicht vollkommen systematisch, weil man Baueren neben Bauern erwarten würde, aber wir haben eine analoge Alternation zwischen Herrn und Herren, so dass das noch immer regelhaft wäre.

Natürlich gibt es ein paar Stellen, wo das so nur bedingt funktionieren wird: einen femininen Singular für Schüler zu bilden ist schwierig, denn letztlich wäre das (wenn der Plural Schüler erhalten bleiben soll) wohl die Schüler. Hier gibt es Verwechslungspotential zwischen Singular und Plural, aber es bleiben ja auch noch alternative Strategien, deverbale Nominalisierungen auf Basis von Partizipien, die Lernende beispielsweise. Ich bin insgesamt kein großer Freund einer präskriptiven Sprachpolitik -- und darauf läuft das genderneutrale Sprechen hinaus --,  denn das widerspricht Grundannahmen der modernen Linguistik, die sich eher bemüht, den Sprachgebrauch zu verstehen als ihn zu korrigieren, aber wenn es denn unbedingt sein soll, sind diese beiden Strategien -- Umschreibung durch Partizipialbildungen und Bildung geschlechtsspezifischer Singularformen für beide Geschlechter -- zumindest etwas, dass man aus sprachwissenschaftlicher Hinsicht als mininalintensiven Eingriff bezeichnen könnten. Ganz anders als der Gender-Stern.

Andererseits handelt es sich hierbei auch um eine diskrete Innovation, keine lauthals schreiende (= das Sprachgefühl verletzende), weshalb ich nicht davon ausgehe, dass das irgendeine Aussicht auf politischen Erfolg hat. Der Feminismus kann so ein bisschen Schreien ruhig gebrauchen, wenn man sich auch mehr Konkretes wünschen würde. Und so werden wir wohl weiter den Zwiespalt zwischen Grammatik und Politik ertragen müssen. Noch besser wäre freilich, die Energie für diesen Kampf um Worte würde tatsächlich in die Politik fließen.

Samstag, 15. Februar 2020

Kanaldeutsch

Ich habe in den letzten Tagen einige Wikipedia-Seiten zu niederdeutschen Dialekten aufgeräumt und erweitert und bei der Gelegenheit wieder einmal die Seite zum "Eberswalder Kanaldeutsch" angeschaut. Das ist ein ganz interessanter Fall, weil es zum einen ein regional tief verwurzelter Begriff ist (und damit als kulturgeschichtlich relevant eingestuft werden kann, obwohl er in dieser engen geographischen Bestimmung eigentlich nicht sprachwissenschaftlich relevantes bezeichnet), zum anderen aber in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Entwicklung und Wandlung erfahren zu haben scheint. Als ehemaliger Eberswalder kann ich das nur in Ansätzen nachvollziehen, versuche es aber dennoch. Man möge mich korrigieren ;)

Eberswalde ist eine Kreisstadt in Brandenburg mit einer fast 800-jährigen Geschichte. Gegründet während der Ostkolonisation, war die Sprache im Mittelalter das märkische Mittelniederdeutsch, und wie alle brandenburgischen Dialekte von niederfränkischen Einflüssen geprägt. Es gibt mittelniederdeutsche Urkunden aus der Stadt und ihrer Umgebung, die aber nicht unbedingt die gesprochene Sprache widerspiegeln (ebensowenig wie dies die zuvor genutzte lateinische oder die danach genutzte hochdeutsche Kanzleisprache taten). Authentische Zeugen der Sprache der Kolonisationszeit sind am ehesten Ortsnamen, die entweder (als Neubildungen) die Sprache der Zeit wiederspiegeln oder (als Übertragungen) die Herkunftsregion der Siedler. Freilich liegen zwischen der ersten Nennung der Ortsnamen und der Kolonisation bis zu 200 Jahre, denn erst mit der Systematisierung des Steuerwesens (Landbede) wurden Ortsnamen flächendeckend erfasst (zu den Ortsnamen des Barnim siehe Enders 1980). Neben dem Mittelniederdeutschen bestand noch einige Zeit das Slawische fort (daher einige Lehnworte, wie z.B. Kiez), wurde letztlich aber assimiliert.
Mit den aus Süddeutschland stammenden Hohenzollern und dem Niedergang der Hanse setzte sich in den Urkunden seit dem 15.Jh. zunehmend die hochdeutsche Kanzleisprache in Brandenburg durch, zunächst aber ohne sich auf die gesprochene Sprache auszuwirken. Während des Dreißigjährigen Krieges wurde Brandenburg stark entvölkert und im 17. und 18. Jh. beispielsweise durch Glaubensflüchtlinge (u.a. Franzosen und Pfälzer) oder durch staatliche Umsiedlungsprojekte wieder aufgesiedelt (im Fall von Eberswalde beispielsweise auch durch Thüringer, die sog. Ruhlaer Messerschmiede), so dass hier zahlreiche, sehr unterschiedlich geartete, auch hochdeutsche Sprachinseln entstanden und miteinander interagierten. Im Zuge der Aufklärung und der Etablierung der neuhochdeutschen Schriftsprache war seit dem 18.Jh. das Hochdeutsche (neben dem Französischen) eine Prestigevarietät, die die örtlichen Dialekte zurückdrängte, zumindest das Umland war aber noch bis ins 19.Jh. durchweg niederdeutsch geprägt. Das ist u.a. daran zu erkennen, dass die modernen Ortsnamen der Dörfer (die erst im 19.Jh. standardisiert wurden) i.d.R. niederdeutsche Lautung zeigen. (Die Namen von Regionalzentren wurden schon seit dem 16. Jh. standardisiert und zeigen durchweg hochdeutsche Lautung.) Dies gilt insbesondere für sämtliche Ortsnamen auf -ow (Niederfinow, Melchow, Tornow), denen hochdeutsch -au (Prenzlau, dialektal Prenzlow; Bernau) entspricht. (-ow geht entweder auf Zusammensetzungen mit mittelniederdeutsch ouwe "Aue" zurück, so in Bernau zu mittelniederdeutsch bernen "brennen", oder auf das slawisches Derivationsmorphem -ov-, das Zugehörigkeit ausdrückt, so in Tornow, vgl. bulgarisch Târnovo. Beide sind lautlich seit dem Mittelniederdeutschen ununterscheidbar.)

Im späten 18.Jh. muss man daher in etwa mit folgender Sprachsituation rechnen: Im Umland mehrheitlich niederdeutsch, v.a. in der Stadt unterschiedliche Einwohnergruppen mit niederdeutscher, hochdeutscher oder französischer Umgangssprache, sowie dem Hochdeutschen als Prestigevarietät, die auch in den Schulen gelehrt wird. Um 1900 beschrieb Alexander Giertz in seiner Geschichte von Petershagen die Sprachsituation auf dem Barnim wie folgt:
Nur spärlich vernimmt man noch den Barnim`schen alten Dialekt („Platt“) in unsern Orten, und das Berliner Norddeutsch hat seinen Siegeszug bald vollendet. So lange Ruhe des Lebens unsere Bewohner umgiebt oder der Verkehr mit einem „Fremden“ sie dazu reizt, wird Berliner oder Schuldeutsch („hochdeutsch“) gesprochen; es ist gleichsam die Redeweise des Nachdenkens oder der ruhigen Ueberlegung. Aber wenn das Gleichmaß überschritten ist und die Herzen warm werden — wenn die Debatten einer wichtigen Tagesordnung die Gemüther erhitzen, oder es sich um die Vorzüge und Mängel eines Viehstückes handelt, dann erklingt noch häufiger der alte fast niederdeutsche Dialekt. Man möchte annehmen, daß der Sprechende in seinem Innern überhaupt noch alles „niederdeutsch“ denke und überlege und nur im Eifer keine Zeit finde, es vor dem Aussprechen in`s „Hochdeutsche“ zu übertragen. Ja, ich glaube sogar, für diese Annahme einige Beweise gefunden zu haben. Dahin ist vor allen Dingen die Erscheinung zu rechnen, daß außerhalb seiner Kreise der Durchschnitts⸗Landmann in hochdeutsch redenden Versammlungen nicht gern das Wort ergreift. Er könnte seine Gedanken und seine durch Erfahrung gereiften Ansichten sehr wohl fließend vortragen; aber es müßte in seiner Sprache und vor allen Dingen in den ihm gewandten Bildern und Vergleichen geschehen, die häufig mit dem „Hochdeutschen“ sich nicht decken — darum schweigt er lieber. Ebenso verhältnißmäßig schwer ist es ihm und seinen Kindern, sich ein Gedicht im Schuldeutsch verstanden einzuprägen und dementsprechend richtig ausgedrückt wiederzugeben; es fehlt dann die rechte Betonung als Beweis des Verständnisses und da, wo durch die Bemühungen des Lehrers ein Kind etwa den Nachdruck auf die rechten Worte legt, merkt man, daß es Kunst ist und nicht Natur. Endlich nehme ich für meine Annahme auch die Thatsache in Anspruch, daß die Eltern mit den Kindern im Hause vorläufig noch barnimisch reden und sie demgemäß auch so denken lehren. Man merkt dies an den verunglückten Versuchen der kleineren Kinder, bei gewordenen Aufträgen und Bestellungen sich dem Empfänger gegenüber hochdeutsch zu geben. Wenn eine Mutter ihrem Kinde zuruft: „Draach` den Mahn (Mohn) hin!“ und das Kind die Ablieferung mit den Worten begleitet: „Ich bringe hier den Mond!“ — so hat der kleine Bringer einen Bock geschossen, welcher ihm in niederdeutscher Ausdrucksweise sicher nicht vorgekommen wäre.

Es ist selbstverständlich, daß dergleichen Beobachtungen heute nicht mehr in jedem Orte des vielgearteten Barnim gemacht werden können; die nähere Umgebung Berlins ist vielfach oder ganz von der Sprache der Hauptstadt beeinflußt und am meisten die „Vorortlinien“. Ja, diese Mundart ist stellenweise sogar schon weit vorgerückt) und ihre Strahlen haben bereits die Südgegend von Prenzlau (Ukermark) erreicht. Sie wandert seit längerem schon über die Nordgrenze des Niederbarnim auf Neustrelitz zu, ebenso bis mitten in`s Havelland und Zauche⸗Teltow; auch Wriezen hört sie von Berlin aus in nordöstlicher Richtung über den Oberbarnim heranrücken.
Alexander Giertz (1900), Geschichte von Petershagen (Ortschronik), S.134f. (der digitalen Edition) 
Die niederdeutschen Dialekte haben im Barnim tatsächlich bis ins 20.Jh. überlebt, dominant ist aber eine berlinisch geprägte mitteldeutsche (hochdeutsche) Umgangssprache, die in der Region als "Eberswalder Kanaldeutsch" oder "Finower Kanaldeutsch" bezeichnet wird. 

Die Bezeichnung "Eberswalder Kanaldeutsch" ist angeblich erstmals von Rudolf Schmidt (1938), Oberbarnimer Wanderbücher, Bd. 6(1) erwähnt. Diese Information stammt aus der Wikipedia, ist aber unverizifiert, denn es gibt diese Publikation weder digital noch ist sie bei der DNB verzeichnet. Nach Diskussionsseite soll sich in der Geschichtsbibliothek der HU Berlin ein Exemplar befinden. Was es tatsächlich gibt (und zwar auch an der HU), sind seine Oberbarnimer Heimatbücher, aber deren Band 6 ist von 1926 und behandelt nicht Eberswalde. Band 16 allerdings (falls es den geben sollte, mir bekannt ist nur Band 15), wäre regulär 1938 erschienen. Was es aber auch gibt, sind seine Oberbarnimer Kreiskalender, 1922 bis 1942 mit dem Untertitel "Oberbarnim : ein Heimatbuch für Stadt und Land", da könnte das vielleicht eher genannt sein. Soweit sich rekonstruieren lässt, war die Bezeichnung "Eberswalder Kanaldeutsch" spätestens in den 1960er Jahren etabliert. Daneben spricht man (v.a. im Ortsteil Finow) von "Finower Kanaldeutsch". Das ist insofern interessant, als dass Finow erst 1928 entstand, bereits 1970 mit Eberswalde vereinigt wurde und eigentlich stets im Schatten von Eberswalde stand (so sehr, dass der Goldschatz von Eberswalde nicht nach seinem Fundort benannt wird). Wäre der Begriff "Eberswalder Kanaldeutsch" 1928 bereits etabliert gewesen, wäre ein separater Begriff für "Finower Kanaldeutsch" vermutlich nicht eingeführt worden. Wahrscheinlicher ist daher (aber das ist nur meine persönliche Spekulation), dass das "Finower Kanaldeutsch" nicht nach der Stadt Finow benannt ist, sondern nach dem Finowkanal, was auch den Begriff "Kanaldeutsch" erklärt, und dass "Finow(er) Kanaldeutsch" die ursprüngliche Bezeichnung ist. Wenn das nach Gründung der Stadt Finow darauf umbezogen wurde, ist nachvollziehbar, wieso die Eberswalder ihre Umgangssprache nicht von einem Nachbarort herleiten wollten und daraufhin von Eberswalder Kanaldeutsch sprachen.

Der Finowkanal wurde (nach aufgegebenen Vorarbeiten dazu seit dem 17.Jh.) Mitte des 18.Jh. angelegt und war eine wichtige Verkehrsachse zwischen Berlin und der Oder (d.h. der Ostsee), die wesentlich dazu beitrug, dass das Finowtal sich zu einem Zentrum der Metallindustrie entwickelte, in ihrer Bedeutung sehr schön belegt z.B. im Gemälde "Walzwerk Neustadt-Eberswalde" von Carl Blechen (um 1830). In diesem Sinne bestand im 19.Jh. und erkennbar verursacht durch den Kanal permanent intensiver Verkehr zwischen Berlin und der Region um Eberswalde, so dass die berlinische Umgangssprache eine ständige Präsenz in der Region besaß und sich dabei sowohl vom Niederdeutschen als auch den städtischen Varietäten des Hoch- und Mitteldeutschen abgrenzte. Dies wäre eine Erklärung für den Begriff "Kanaldeutsch". Bereits seit 1842 ist Eberswalde auch über die Eisenbahn mit Berlin verbunden und fungierte bis 1898 als Luftkurort, wodurch die Präsenz der Berliner Stadtsprache in der Stadt weiter zunahm. Insofern lässt sich die Entstehung der Sprachvarietät sicher bis ins 19.Jh. zurückverfolgen, die Entstehung des Namens "Kanaldeutsch" vor oder im Zuge der Inbetriebnahme der Eisenbahnverbindung zumindest vermuten, eventuell ursprünglich insbesondere in Abgrenzung zum Schuldeutschen und damit nicht unbedingt positiv gemeint (obwohl der Begriff heute keine negativen Konnotationen hat).

Ist das Kanaldeutsche nun eine eigene Sprache? Definitiv nicht, nicht einmal ein eigenständiger Dialekt, es ist nur die örtliche Ausprägung der Berliner Umgangssprache. Allerdings gibt es einige Besonderheiten. Dazu gehört, dass im Eberswalder Kanaldeutschen der Artikel dat "das" neben oder statt dem berlinischen Artikel det verwendet wird (nicht zu verwechseln mit dit "dies"). Das Berlinische det geht direkt auf das Mittelmärkische zurück, d.h., das Niederdeutsche, das ihm vorausging. Eberswalde allerdings liegt in der Übergangszone zwischen Mittelmärkisch und Nordmärkisch, wo der Artikel dat ist, und dies ist hier bewahrt. Mein Eindruck ist allerdings, dass dit "dies" oftmals statt des einfachen Artikels verwendet wird, begründet vielleicht durch die lautliche Ähnlichkeit zu Berlinisch det. In der Sprache der Generation der heute 60-Jährigen findet sich einiges, was direkt aus dem Niederdeutschen überdauert zu haben scheint und nicht unbedingt aus dem Berlinischen stammt. Dazu gehört z.B. wräuschen "(eine Decke) zerwühlen", wrangeln "balgen (von Kindern)", und Wepse "Wespe" (eventuell Dialekt parodierend). Ein mir nur aus Eberswalde bekannter Neologismus ist Butte für "Tetrapak-Verpackung" (ursprünglich "Faß"). Typisch, aber in ähnlicher Form wie im Berlinischen sind Kontraktionen, z.B. ha'ick (neben habbick oder hab ick) "habe ich" (das Nordmärkische verhält sich hier ähnlich, mit heff'k statt heww(e) ik), kannste "kannst du" (vgl. nordmärkisch/mittelpommersch kast < kast du), hamma (oder hamm'wa) "haben wir" (vgl. nordmärkisch/mittelpommersch hemm'f < hebben wi) usw. Das auf der Wikipedia-Seite genannte Klopsgedicht gibt es hier, ist aber sicherlich Berlinisches Gemeingut. Dies gilt vermutlich auch für die Löwenwitze:

"Warum heeßt der Löwe Löwe? – Wall er durch de Wüste löft (löwt).
Warum heeßt der Tijer Tijer? – Wall er och durch de Wüste löft, aba jewaltijer.
Un warum heeßt die Hyäne Hyäne? – Wall se och durch de Wüste löft, aba im Rudel: Da eene un hie eene …"

Ansonsten gibt es viel typisch Berliner Lexik.

In der Phonologie hat das Kanaldeutsche ein langes ungespanntes e aus dem Niederdeutschen bewahrt, das für den Umlaut des langen a verwendet wird. Es gibt daher einen lautlichen Unterschied zwischen keene "keine" und Kähne, zwischen Lehme und Lähme oder dehnen und Dänen. Im Hochdeutschen gibt es diese Minimalpaare nicht bzw. nur in der Orthographie. Wie in Berlin ist Hochdeutsch ei entweder Kanaldeutsch ee (wenn aus mittelniederdeutsch/mittelhochdeutsch ei) oder ei (wenn aus mittelniederdeutsch/mittelhochdeutsch î). Es heißt daher eene Kleene "eine Kleine" (mnd. eyne kleyne), aber meine Kleene "meine Kleine" (mnd. mine kleyne). So etwas wie "meene Kleene" passiert eigentlich nur Leuten, die versuchen, den Dialekt zu imitieren. Hochdeutsch g wird unterschiedlich behandelt: im Anlaut wird es j (jeben "geben", jut "gut", janz "ganz"), im Inlaut nach hohem Vokal ebenfalls j (fliejen "fliegen"), nach tiefem Vokal gh (wie das uvulare r im Deutschen, Voghel "Vogel", saghen "sagen"). Im Auslauf oder vor Konsonant erscheinen die entsprechenden stimmlosen Varianten (Könich "König" -- das ist auch die schuldeutsche Aussprache, sachste "sagst du"). Im Anlaut vor Konsonant scheint g akzeptabel zu sein, mir ist nicht klar, ob so etwas wie jrün neben grün nicht hyperkorrekt ist.

Abgesehen davon verhält sich das Kanaldeutsche (und das Berlinische) dem Hochdeutschen gegenüber recht regulär. Allerdings gibt es Ausnahmen: In einigen Fällen sind ältere Formen als im Hochdeutschen bewahrt. Mittelhochdeutsch i in offener Silbe wurde zu ie gedehnt, Kanaldeutsch bewahrt aber ville "viele" und widder "wieder". Das kann nicht aus dem Niederdeutschen kommen, da dort ebenfalls Dehnung eintrat (veel "viele"), sondern muss auf die mitteldeutschen Dialekte zurückgehen, die das Berlinische geprägt haben. Einige Worte verhalten sich lautlich atypisch. Das gilt zum Beispiel für oll "alt", was sicherlich eine niederdeutsche Form darstellt, die auch im Berlinischen überdauert hat.

Es gibt relativ viel Reduktion und Assimilation. Die Endungen auf -en werden oft zu -n oder -m (nach b, f, v oder w) verkürzt, loofen "laufen" wird daher eigentlich loofm gesprochen. "Haben wir" ist lautlich im Kanaldeutschen möglich, wird man aber eher als hamma oder hamm'wa hören. Unbetontes -er wird praktisch wie ein unbetontes -a gesprochen (und könnte man auch so schreiben), das gilt auch für Klitika (hamm'wa < *haben wer < haben wir), allerdings nicht für nicht-klitische Einsilber (es heißt der, nicht da). Intervokalische Konsonanten können der Lenition unterliegen. Mudder und Vadder statt "Mutter" und "Vater", ha'ick statt habbick "habe ich". Im Auslaut ist Epenthese möglich: ebent statt eben.


In der Morphologie wurden früher Akkusativ und Dativ oft verwechselt (ebenso wie in Berlin, da im Nord- und Mittelmärkischen zusammengefallen, z.B. in mi "mich; mir"), daher "Mir und mich verwechls'ich nich, das kommt bei mich nich vor." Allerdings ist das heutzutage eher Klischee als Befund. Die Akkusativendung auf -(e)n wird übergeneralisiert (zu Oman gehen).

In der Syntax gibt es, da es sich um eine rein gesprochene Varietät handelt, relativ viel Gebrauch von Interjektionen, z.B. weeßte? Gelegentlich werden dass und damit zu verwechselt, aber das ist evtl. weniger ein Dialektphänomen als vielmehr Ausdruck der Tatsache, dass beides Kausalmarker sind.

Prosodie und Satzmelodie sind etwas speziell und werden (ebenso wie die Sprechweise insgesamt) von Außenstehenden unter Umständen als unfreundlich und offensiv wahrgenommen. Im wesentlichen so wie in den Klischees über Berliner.

Warum nun ist das Kanaldeutsche relevant? Zum einen ist der Begriff von kulturhistorischem Interesse, denn er erzählt eine Geschichte, zum anderen findet sich das Berlinische als das ursprüngliche Modell des Kanaldeutschen seit der Wende in Berlin in Rückzug und Abbau begriffen, bedroht zum einen durch das Standarddeutsche, zum anderen durch neue Soziolekte wie das Kiezdeutsch. Berner (2009) beschreibt den Prestigeverfall des Berlinischen in Ostberlin seit der Wende als einen Effekt der Dominanz der Westberliner Gesellschaft in Berlin. In Brandenburg sind diese Effekte zum einen geringer ausgeprägt, so dass das positive Selbstbild der Sprache eher erhalten geblieben ist. Zum anderen bezog der Begriff des Kanaldeutschen einen Teil seiner Attraktivität während der DDR-Zeit sicherlich auch aus der Abgrenzung gegenüber dem Berlinischen, was die generelle Konkurrenz zwischen Hauptstadt und Umland widerspiegelt, so dass ein Verfall des Berlinischen nicht unbedingt auf die eigene Sprache bezogen wird.

Das Kanaldeutsche selbst scheint sich eher gut zu entwickeln. Das gilt zumindest für die Popularität des Begriffes selbst. In den 1990er Jahren eher umgangssprachlich verwendet, wurde der Begriff in den 2000ern von regionalen Printmedien aufgenommen, es gibt seit 2004 eine eigenständige Wikipediaseite, und der Begriff findet im digitalen Zeitalter zunehmende Verbreitung. Tatsächlich wird "Kanaldeutsch" dabei aber fast immer in Zusammensetzung mit einem Ortsnamen verwendet, zunehmend auch andere als Eberswalde und Finow. Ich kann nicht ermessen, wie alt diese Tendenz ist, und ob es nicht nur ein Artefakt des Social-Media-Zeitalters ist, dass diese Selbstbezeichnungen jetzt aufscheinen, aber ein Grund für die "neuen" ortsbezogenen Kanaldeutsche könnte sein, dass "Eberswalder Kanaldeutsch" bis 1990 immer auch auf den Kreis Eberswalde bezogen werden konnte, nicht nur auf den Ort, dass aber dieser Kreis seit der Wende umstrukturiert und umbenannt wird und man sich deswegen scheut, den eigenen Dialekt mit dem Namens einer Nachbarstadt zu bezeichnen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit verwendet man den Begriff "Kanaldeutsch" z.B. in Schwedt, der Uckermark, Wriezen, oder Freienwalde -- angesichts dieser Fragmentierung, die keinerlei linguistische Basis hat, darf man dann auch wieder gern von Kanaldeutsch insgesamt sprechen, und dann gewinnt der Begriff sogar an linguistischer Relevanz -- als Selbstbezeichnung der nordostbrandenburgischen Varietät des Berlinischen.

Abzusehen ist allerdings auch, dass mittelfristig das Kanaldeutsche das Schicksal des Märkischen teilen und verschwinden wird. Es ist weder genügend eigenständig, prestigeträchtig noch weiträumig, um in einer zunehmend mobilen Arbeits- und Lebenswelt und in einer strukturschwachen Region neben dem Standarddeutschen bestehen zu können. Das macht es aber auch zu einem guten Ansatzpunkt für demonstrativen, trotzigen Lokalpatriotismus, und genau das scheint es zu sein, was die Medienpräsenz verursacht.

Referenzen

Enders, L. (1980). Historisches Ortslexikon für Brandenburg, Teil VI, Barnim. Hermann Böhlaus Nachfolger. Weimar.

Berner, E. (2009). Niederdeutsch–Brandenburgisch–Berlinisch–Standardsprache: Entwicklungstendenzen im regionalen Varietätengefüge. In: Siehr, Karl-Heinz/Elisabeth Berner (Hrg.), Sprachwandel und Entwicklungstendenzen als Themen im Deutschunterricht: fachliche Grundlagen–Unterrichtsanregungen–Unterrichtsmaterialien.–Potsdam: Universitätsverlag Potsdam, 121-140.

Donnerstag, 2. November 2017

Resolving and Defining Language Codes for Language Resources

A functionality that is frequently requested when working with language resources available from the web is the use (and the interpretation) of language codes. Language codes are an essential device to unambiguously refer to language varieties, but only as a technical means to identify languages, thereby supplementing the language name. This is necessary as the same language variety may be referred to by different names, or the same name may be applied to different language varieties: The Manding language Bamanakan is also known as Bambara, for example, while dütsch (or düdesch) has been the medieval self-designation of both Low German and Dutch. In this blog post, I summarize the conventional standards and strategies how to find the appropriate language code for any given language.

There exist different standards for the purpose, most importantly ISO 639 (widely used but with a number of known limitations), and Glottolog (by linguists and for linguists, far more detailed and providing a structured [~ phylogenetic] view, but biased towards endangered modern languages, and thus rather sketchy in its historical dimension).

1. ISO 639 language tags

ISO 639 provides language identifiers as standardized by the International Organization for Standardization, whose standards are most widely used in technical applications. With the dawn of multilingual information technology, standardized language identifiers became necessary and language identifiers have been standardized as early as 1967. This original standard, still available as ISO 639/R has been withdrawn in 1988 and superseded by ISO 639:1988 which provided two-letter codes for a substantial set of languages. Unfortunately, combinations of two (ASCII) letters only allow to distinguish up to 26²=676 language varieties, which covers less than 10% of the languages currently spoken  (as of 2016-08-19, SIL's Ethnologue lists 7,097 languages, Glottolog lists 7,943 language varieties). Accordingly, ISO 639:1988 was withdrawn in 2002 and superseded by the current ISO 639 standard.
ISO 639 not only extends the earlier two-letter codes, but also integrates other pre-existing standardization efforts, reflected in different profiles.

1.1 Two-letter codes (ISO 639-1)

ISO 639-1 continues the earlier two-letter codes for languages. A list (and an alignment with ISO 639-2 codes) is provided by the Library of Congress, the ISO 639-2 registration authority. Because of its brevity and wide-spread use in technical applications, ISO 639-1 is recommended to be used for languages without ISO 639-3 code [BCP47].

1.2 Three-letter codes from the librarian tradition (ISO 639-2)

ISO 639-2 is a standard for three-letter language identifiers, based on the MARC Code List for Languages, a system developed for use in libraries. As the Library of Congress is the maintenance agency for both lists, they are kept compatible in terms of code additions and deletions. However, coming from a librarian tradition, ISO 639-2 is (deliberately) limited in scope and coverage. The original MARC code list aims to "[include] individual codes for most of the major languages of the modern and ancient world, e.g. Arabic, Chinese, English, Hindi, Latin, Tagalog, etc. These are the languages that are most frequently represented in the total body of the world's literature." (LoC 2007, p.5, emphasis mine).
For 22 cases, ISO 639-2 provides two alternative codes, one for terminological (T) use, one for bibliographical (B) use. The T codes are aligned with ISO 639-3 whereas the B codes correspond to deviating MARC codes. For web resources, ISO 639-2/T codes are recommended to be used, but only if no ISO 639-1 code exists [BCP47].
A list (and an alignment with ISO 639-1 codes) is provided by the Library of Congress.

1.3 Three-letter codes for [almost] all human languages (ISO 639-3)

By providing identifiers for about 400 languages only, ISO 639-2 is deliberately limited in its coverage. ISO TC37/SC2 thus invited SIL International to develop a more exhaustive set of language codes as ISO 639-3. SIL International, originally known as the Summer Institute of Linguistics, is a faith-based (i.e., missionary) organization with a strong profile in linguistics, well-known in academia for Ethnologue, a near-exhaustive database of languages and information about them.

Similar to MARC, the Ethnologue employed (independently developed) three-letter language identifiers. For ISO 639-3, these were harmonized with ISO 639-2/T and complemented with identifiers for extinct and constructed languages provided by the Linguist List.

ISO 639-3 is designed for compatibility with ISO 639-2: "At the core of ISO 639-3 are the individual languages already accounted for in ISO 639-2. The large number of ... languages ... beyond those ... was derived primarily from Ethnologue ... [and] from Linguist List." [SIL 2015a] "The alpha-3 codes for ISO 639-2 and ISO 639-3 overlap. In particular, every individual language code element in the terminology code of ISO 639-2 is also included in ISO 639-3 [, and] ... every alpha-3 language identifier has a single denotation across the union of code elements from all parts of ISO 639" [SIL 2015b].

1.4 ISO 639-4 to ISO 639-6

These standards are grouped together because they are of limited practical relevance to the language resource community.
ISO 639-4 defines general principles of coding of the representation of names of languages [ISO 639-4:2010]. However, only the introduction is freely available, most technical applications thus follow [BCP47], instead.
ISO 639-5 provides three-letter codes for language families and groups, maintained by the Library of Congress and thus primarily oriented towards supplementing ISO 639-2 [LoC 2013]. In particular, "this part of ISO 639 is intended to support the overall language coding (...) rather than provide a scientific classification of the languages of the world" [LoC 2013]. While ISO 639-5 provides a possible, but not uncontroversial view of hierarchical grouping, it does not live up to the standards of linguists -- both in terms of coverage (focusing on ISO 639-2) and design decisions (e.g., by postulating an Altaic group comprising Turkic, Tungus and Mongolian; here, both the inclusion of Japanese and/or Korean have been suggested as well as abandoning the Altaic language group altogether).
As the aforementioned ISO 639 profiles face a number of known issues in terms of coverage and historical depth, the complementary ISO 639-6 profile aimed to provide 4-letter codes for language variants. ISO 639-6 was edited by Debbie Garside and maintained by GeoLang Ltd., a Welsh company that originally provided services for geolinguistic research, but later shifted their focus to cyber security. The standard was withdrawn in 2014 [ISO 639-6:2009], possibly as a result of this re-orientation of the maintainer.

1.5 Applications and Issues

The ISO 639 standards are highly successful in technical applications, and -- where applicable --, recommended to be used for language resource metadata, e.g., as part of the Dublin Core Metadata Initiative: dcterms:language recommends "to use a controlled vocabulary such as RFC 4646". RFC 4646 (and its successor RFC 5646, i.e., BCP47) defines tags for identifying languages on grounds of ISO 693. With moderate degree of simplification, the following production rule applies

$ISO_639 ("-" $ISO_639')? ("-" $ISO_15924)? ("-" $ISO_3166_1)?

with the following components:
  • $ISO_639 the shortest ISO-639 code applicable (obligatory), e.g., en for English.
  • $ISO_639' an extended language tag (e.g., where an ISO 639-3 code provides a finer granularity than ISO 639-1) (optional).
  • $ISO_15924 ISO 15924 4-letter code for script (optional), e.g., Latn for Latin.
  • $ISO_3166_1 ISO  3166 2-letter (or UN M.49 3-number) region code (optional), e.g.,  DE (resp. 276) for Germany or US (resp. 840) for the USA
This blog post can thus be characterized with any of the 10 following language tags:
  • en (it is English, indeed)
  • en-Latn (English in Latin characters)
  • en-Latn-DE (resp. en-Latn-276; English in Latin characters written in Germany)
  • en-Latn-US (resp. en-Latn-840; English in Latin characters compliant with the US variety ~ American English)
  • en-DE, en-276, en-US, en-840
When creating state-of-the-art editions of legacy resources, it is often necessary to determine the language code of a language variety described informally, only. In order to find the language code for a language variety, different strategies can be pursued. ISO 639-2 and ISO 639-1 are basically subsets of ISO 639-3, which originates from SIL's Ethnologue. However, Ethnologue introduced a paywall in 2016, so that other alternatives are to be considered. As ISO 639-3 language tag maintenance is partially coordinated with the Linguist List, their MultiTree portal provides a semi-authoritative resource that allows to search for languages and their linguistic context. Glottolog is increasingly being considered as a freely available substitute for Ethnologue, and also provides ISO 639-3 codes (where appropriate). Wikipedia and Wikipedia-derived resources such as DBpedia do not represent viable sources for determining language tags or for identifying languages. Although many Wikipedia pages provide ISO 639 codes, as well as links to Glottolog, the redirection formalism of Wikipedia introduces additional noise. As an example, Middle Aramaic, "spoken from the 3rd century CE into various periods of modern times in different areas" [disambiguation page], redirects to Aramaic, and the language code provided at the time of writing is arc, i.e., "Imperial Aramaic (700-300 BCE)".

In the web, BCP47 codes are used, for example, to type strings for their language, e.g., in RDF 1.1. It is thus possible, for example, to give an RDF resource labels in different languages:

<dbpedia.org/resource/LLOD> rdfs:label "Linguistic Linked Open Data"@en

In query languages, we can now explicitly query for English (French, etc.) labels, e.g., in SPARQL

<dbpedia.org/resource/LLOD> rdfs:label ?label. FILTER(lang(?label)='en')

An obvious problem is that BCP47 codes provide different levels of granularity, and that fine-granular BCP47 tags need to be decomposed in order to be compared with less-granular ones. In order to look for text in (any standard variety of) English, it would thus not be sufficient to match the language code, but a substring of the language code (if it provides geoinformation) or their equivalents (e.g., for numerical or alphabetical country codes). Because BCP47 codes can be complex, the "naive" approach with lang() and equality tests is error-prone and should be avoided. Instead, SPARQL provides the langMatches() function which implements routines for matching BCP47 language codes.

<dbpedia.org/resource/LLOD> rdfs:label ?label. FILTER(langMatches(?label,'en'))

A frequent mistake is that - because of known decifits of ISO 639-1 and ISO 639-2 - practicioners in LLOD tend to prefer ISO 639-3 and use these codes even when BCP47 requires an ISO 639-1 code. Under these circumstances, langMatches() may return unexpected results.

The fact that BCP47 and ISO 639 represent complex, structured information in opaque strings may also lead to other problems: Without knowing the exact decomposition rules, and without a machine-readable specification of the relations between related ISO 639 codes, it is also not possible to query this information. Also, as SIL takes a natural bias to languages of the ancient Near East, ISO 639-3 provides a very fine-grained classification for, e.g., Aramaic, distinguishing Old Aramaic (oar), Imperial Aramaic (arc), Jewish Palestinian Aramaic (jpa), Jewish Babylonian Aramaic (tmr), Samaritian Aramaic (sam), Classical Syriac (syc, Syriac Aramaic), Syriac (syr, as macro-language), etc. But these fine-grained distinctions are motivated by theological interest, mostly, and other applications require a broader notion of "Aramaic". So, when we want to express references to (an unspecified variety) of "Aramaic" in, say, a glossary of the Old High German diathessaron (which originates from a Latin translation of an Aramaic gospel harmony), it is difficult to identify the proper language tag for the underlying variety of Aramaic for even a specialist in older Germanic languages, in particular given the fact that ISO 639-3 documentation is sparse. Unfortunately, ISO 639-2 only gives us a reduced choice between Imperial Aramaic (arc, "until 300 BCE"), Samaritian Aramaic (sam, does not apply) and Syriac (syr, including modern varieties), whereas ISO 639-1 is not aware of Aramaic, resp. Syriac, at all. We are thus lacking a level of generalization here.

A well-known problem is that ISO 639 codes are often insufficiently granular for the needs of linguists, who require flexible and more fine-grained subclassifications of languages, but also, a relatively flexible way to add new distinctions where necessary. As an example, orthographic traditions may change drastically over time, between genres, and even between different social groups, so that language processing of historical texts may requires specialized language identifiers for a specific variety written at a specific time in a specific region, for a specific purpose and by persons from a specific group. For example, in Sumerian women seem to have used a specific language variety, which a largely deviating phonology and vocabulary, but this is documented in certain genres only. However, a BCP47-code to represent this Emesal variety does not exist. Similar gender dissociations can be found in the Central American Garifuna language, for example, where the language of women and the language of men have historical origins in different language families, but cannot be differentiated with BCP47 (which recommends the ISO 639-3 code cab).

2. URI-based  language codes

Tag-based approaches on language classification rely on unstructured lists of strings (tags) as a primary data structure, where relations between different categories are nor formally represented, and with a fixed level of granularity. While BCP47 allows to refine the meaning of language tags by intersecting these with categories for other levels (language variety, writing system, geographic region) to arrive at a more specific definition, these additional criteria are only indirectly related to linguistic classification, and thus potentially error-prone.

A second issue is that expanding the BCP47 vocabulary is a laborsome and formal process. In order to introduce a novel language identifier for ISO 639-3, for example, a formal proposal needs to be submitted, verified by the ISO 639-3 registrar, and discussed within the community, e.g., on Linguist List  and other appropriate discussion lists. With a growing consensus pointing towards a change, this is documented, and published as a Change Requests, which are then open to further review and comment by any interested party for a period of three months, before finally being adopted, adopted in part, amended or withdrawn. However, this decision process is only partially driven by linguistic considerations, but can be affected by external factors such as language politics. Assigning a language variety an ISO language identifier can be seen as a political move. As an example, ISO 639-3 ids for Scanian (scy) and Jamtska (jmk), transitional dialects between Swedish and Danish, resp. Norwegian, have been retired in favor of their respective national language, Swedish, cf. the discussion on the re-activation of for Scanian.

These problems, the unstructured and static nature of language tags, their fixed level of granularity, as well as the administrative overhead of maintaining sparked early ideas on URI-based language identification: Regardless of the method of maintenance (be it by expert approval or any kind of formal process), additional information about language URIs can be provided in a machine-readable way, e.g., regarding their phylogenetic relations, and if necessary, URIs for novel language varieties can be created in a new namespace and put in relation with community-approved concepts.

2.1 ISO 639 in RDF

An RDF edition of ISO language codes has been discussed at the W3C in the mid-2000s, already, but without a consensus on the maintainer, this never evolved into a concrete resource. Only recently, the Library of Congress, the registration authority for ISO 639-1, 639-2, and 639-5, added RDF serializations to their editions [639-1, 639-2, 639-5] whereas SIL, the registration authority for ISO 639-3, only provides TSV data. Accordingly, most LLOD resources point to URIs and RDF data sets provided by third parties, instead. A current community practice (also adopted, for example, by the German National Library) is to refer to lexvo for ISO 639-3 URIs. Accordingly, it is possible to describe the language of this blog post as http://id.loc.gov/vocabulary/iso639-1/en, http://id.loc.gov/vocabulary/iso639-2/eng, or http://lexvo.org/id/iso639-3/eng.

While these RDF editions of ISO 639 merely provide a point of reference for language designations within and beyond the language resource community, they preserve the coverage and granularity issues of ISO 639 standards. However, it is now possible to develop more elaborate vocabularies tailored towards the needs of linguists which refer to ISO 639 language categories.

2.2 Glottolog

Glottolog is an academic repository that provides URIs and machine-readable information for identifying language varieties (or, languoids). It has been collaboratively developed and its languoid inventory is currently maintained by Martin Haspelmath and colleagues. Glottolog originates out of earlier efforts to create a unified bibliographical resource for language documentation (LangDoc), but it has found wide reception beyond this original use case. At the time of writing, for example, Glottolog IDs are used also by the wider community, e.g., in Wikipedia. A crucial aspect is that Glottolog avoids the notion of "language", as it comes with unintended political connotations (cf. Max Weinreich's "a language is a dialect with an army and a navy"), but instead defines a languoid as a language variety about (or in) which written literature does exist. Accordingly, language families, proto-languages, national languages, historical varieties, dialects and sociolects can receive a unified treatment. A Glottolog ID combines a 4-letter alphabetic core with a 4-letter numerical code, e.g.,  stan1293 for (Standard) English, but more importantly, this comes as a native URI: http://glottolog.org/resource/languoid/id/stan1293, which resolves via content negotiation to an HTML visualization or to RDF data, which then provides further links to ISO 639, lexvo, etc.

More importantly, also relations between languoids are provided in a machine-readable way, e.g., phylogenetic relations: English is a subconcept of (skos:broader) `Macro-English' (macr1271, which groups together Modern English with a number of English Pidgins), etc., and it has further subconcepts (skos:narrower) such as Indian English (indi1255), New Zealand English (newz1240), etc. Glottolog is designed to be descriptively adequate, but as being extensible rather than exhaustive: Suggestions about novel or incorrect langoids can be reported via the website and will be addressed by the maintainers. So, even where a distinction may be missing, it may be introduced upon request, and if properly justified by the accompanying scientific literature, it will be accepted.

As it is linked with ISO, etc., Glottolog can also be used to search for ISO language tags.

2.3 Language identification with URIs

Language identification in accordance with BCP47 has the great advantage of being compact and readable and well integrated in web technologies: XML provides an inheritage mechanism for xml:lang, and the Turtle format provides a short notation such as a "some string"@en. With URI references, this cannot be directly reproduced, but instead, explicit typed links between language resources (or their parts) and languoid URIs are required, e.g., with an RDF triple such as ... dcterms:language <http://glottolog.org/resource/languoid/id/stan1293>.  In practice, a combination of both strategies should be employed, i.e., a language resource should define its object language (the language of the primary data, e.g., the text language in a corpus, or the language of lexical entries in a dictionary) with an explicit triple and an appropriate vocabulary (e.g., http://purl.org/dc/terms/), but use language tags for its description language (the language of annotations, labels or definitions). A conventional interpretation would thus regard untyped literals as originating from the object language, unless overridden by an explicit language tag. In most cases, ISO 639-1 language tags will suffice to identify the description language, whereas the various object languages require a more easily extensible language inventory as provided by Glottolog.

References

[BCP47] A. Phillips, M. Davis (ed., 2009), Best Current Practice: Tags for Identifying Languages, https://tools.ietf.org/html/bcp47, retrieved 2016-08-20; also known as RFC 5646
[ISO 639-6:2009] ISO (2009), Codes for the representation of names of languages -- Part 6: Alpha-4 code for comprehensive coverage of language variants, http://www.iso.org/iso/catalogue_detail?csnumber=43380, retrieved 2016-08-20
[ISO 639-4:2010] ISO (2010), Codes for the representation of names of languages — Part 4: General principles of coding of the representation of names of languages and related entities, and application guidelines, https://www.iso.org/obp/ui/#iso:std:39535:en, retrieved 2016-08-20
[LoC 2007] Library of Congress (2007), MARC Code List for Languages, Introduction, https://www.loc.gov/marc/languages/introduction.pdf, retrieved 2016-08-19
 [LoC 2013] Library of Congress (2013), Codes for the Representation of Names of Languages, Part 5: Alpha-3 code for language families and groups, https://www.loc.gov/standards/iso639-5/langhome5.html, retrieved 2016-08-20
[SIL 2015a] SIL International (2015a), ISO 639-3, http://www-01.sil.org/iso639-3/default.asp, retrieved 2016-08-20
[SIL 2015b] SIL International (2015b), Relationship between ISO 639-3 and the other parts of ISO 639, http://www-01.sil.org/iso639-3/relationship.asp, retrieved 2016-08-20

Freitag, 16. Januar 2015

Märchen und Archäologie III: Mittelalterliche Vorläufer von AT 301

In den letzten beiden Posts zum Thema [1,2] habe ich zeigen können, dass sich wichtige Aspekte der von Flemming Kaul für die skandinavische Bronzezeit rekonstruierten Sonnenfahrt in modernen Märchen wiederfinden, und zwar konkret im Motiv AaTh 301, "Die geraubten drei Prinzessinnen". Dessen prototypischer Verlauf ist nach Bolte & Polivka (1913, S.300f., Ersetzung der BP-Motivbezeichner durch meine) folgender:  
1. Herkunft des Helden (nur AaTh 301B)
"Der Held ist von wunderbarer Abstammung und Stärke: (...) [z.B.] der Sohn eines Bären, der eine Frau im Wald überfällt, oder (...) eines Zwergs oder Räubers, aus dessen Gewalt der Knabe sich und die Mutter befreit, ..."
2. Aufbruch, die Episode mit dem Zwerg
"Mit zwei Genossen kommt er in ein leeres Waldhaus, dessen dämonischer Besitzer die Gefährten misshandelt, aber vom Helden bezwungen wird."
Variante (AaTh 301B): "Der dritte Königssohn verwundet, was seine Brüder nicht vermocht hatten, den Dämon (...) und verfolgt ihn bis zu einem Brunnenloch."
Variante (AaTh 301A): "Drei Prinzessinnen werden von einem Dämon geraubt; der Held zieht allein oder mit Gefährten aus, sie zu suchen."
3. Abstieg in die Unterwelt, Drachenkampf und Jungfrauenrettung
"Der Held lässt sich in das Brunnenloch hinab, besiegt in der unterirdischen Welt mit einem dort gefundenen Schwert mehrere dämonische Wesen und befreit drei Jungfrauen, die seine Gefährten am Strick emporziehen."
4. Treulose Gefährten und Rückkehr aus der Unterwelt
"[Der Held] wird von den treulosen Gefährten zurückgelassen, gelangt aber mit Hilfe eines Geistes (Ring) oder eines Vogels (den er mit dem eignen Fleisch füttert) auf die Oberwelt, oder (...) wird hinaufgezogen."
5. Ringerkennung, Bestrafung und Happy-End
"Er gibt sich den Jungfrauen zu erkennen, indem er die von diesen vor der Hochzeit geforderten Ringe oder Kleider liefert, führt die Bestrafung der treulosen Gefährten herbei und hält mit der dritten Prinzessin Hochzeit."
Die für die Diskussion von Kaul entscheidenden Aspekte hierbei sind, dass es sich um eine Unterweltsfahrt handelt (3), er nach Ankunft dort einem i.d.R. schlangenartigen Unhold (Drache) begegnet (3), und (meist) mit Hilfe eines Raubvogels an die Oberfläche zurückkehrt (4), wie quantitativ bereits bestätigt. Problematisch für eine Verknüpfung von diesem Märchenmotiv mit eventuellen Motiven vorzeitlicher Mythologien bleibt aber die enorme chronologische Lücke von immerhin knapp 3000 Jahren zwischen der Aufzeichnung dieser Märchen und den bronzezeitlichen Rasiermessern. Insbesondere müssen wir ausschließen, dass das Motiv erst im Mittelalter aus dem Orient eingewandert ist, wo es ebenfalls weit verbreitet ist. Ich hatte ja schon angedeutet, dass sich mit Volksbüchern und der mittelalterlichen Heldenepik AaTh 301 bis in das Hochmittelalter, wenn nicht darüber hinaus, zurückverfolgen lässt. Hier nun möchte ich das etwas breiter darstellen und folge darin im wesentlichen Voretzsch (1900) und Panzer (1910, 1912), insgesamt durchaus etwas betagten Darstellungen, aber gerade deswegen digital verfügbar, und letztlich die prägenden einschlägigen Studien zum Verhältnis der mittelalterlichen Heldensage zu AaTh 301.
Im Einzelnen handelt es sich dabei um den Huon von Bordeaux (französisch, 13.Jh.), Ortnit/Wolfdietrich (deutsch, 13.Jh.), um den Hürnen Seyfried (deutsch, 16.Jh.) sowie dessen hochmittelalterliche Vorbilder, die in der Thidrekssaga (norwegisch nach niederdeutschem Vorbild, 13.Jh.) und dem Nibelungenlied (deutsch, 13.Jh.) teilweise bewahrt sind, sowie um die Völsungensage (isländisch, 13.Jh.), die die entsprechenden nordischen Traditionen zur Siegfriedsage bündelt. Indirekten Bezug hierzu haben auch wenig volkstümliche Dichtungen wie das Kudrunlied (deutsch, 13.Jh., als Anti-Nibelungenlied konzipiert) und der Seifrid de Ardemont (deutsch, 13.Jh., ein Artusroman).

Zeitlich wesentlich tiefer und erst im Folgenden besprochen wird der eventuell hierher zu stellende Beowulf (angelsächsisch, Text wohl 8.Jh., Manuskript 10.Jh.) anzusetzen sein, ebenso möglicherweise verwandte Motive aus dem mythologischen Teil der isländischen Edda (isländisch, Manuskript 13.Jh.), das zwar meines Wissens (ich bin freilich kein Skandinavist ...) bislang nicht mit Bezug auf AaTh 301 diskutiert wurde, jedoch strukturell ähnliche Elemente aufweist. Vor allem letzteres weist ebenfalls die vorausgesagte Verbindung von Schlange und Raubvogel auf, was jedoch Gegenstand eines späteren Posts sein wird.

Um es vorweg zu nehmen, fehlt den hoch- und spätmittelalterlichen Stoffen bis auf eine Ausnahme das für die Bewertung von Kauls Rekonstruktion wesentliche Element des Rückfluges mit einem Raubvogel. Die hier zusammengestellten und unten zusammengefassten Texte belegen jedoch Frühformen von AT301, die seit dem frühen 13.Jh. überliefert sind. In Verbindung mit den o.g. frühmittelalterlichen bzw. vorchristlichen Texten ist die grundsätzliche Gestalt von AT 301 bis in das erste Jahrtausend zurückzuverfolgen. Nun lässt sich das Fehlen des Adlerfluges gut dadurch erklären, dass sämtliche untigen Berichte historisierend sind, eventuelle Besuche in der Unterwelt also durch Aktionen in einer zumindest geographisch plausiblen Welt ersetzt werden. Drachenkämpfe sind (im Gegensatz zum Adlerflug) durch christliche Heiligenlegenden, vor allem die des Heiligen Georg, in Westeuropa gut etabliert, ebenso wie die Existenz von Riesen aus dem Alten Testament hervorgeht. Dies schließt nicht aus, dass rein volkstümliche Stoffe hier andere Schwerpunkte setzten (wie das Vorkommen des Adlerflugmotivs in Europa wie auch im außereuropäischen Ausland belegt), die sich aber in der Literatur nicht niedergeschlagen haben.
Gleichzeitig wirkten die literarischen Stoffe jedoch in die Volksüberlieferung zurück, so dass sie eine Erklärung für die zuvor bemerkten Charakteristika westlicher AT301-Varianten (Rückkehr durch Geist oder Ring) darstellen. Wenn sich neben diesen archaischere Merkmale wie der Vogelflug finden, dann deutet dies darauf hin, dass diese bereits vor Verbreitung der literarischen Stoffe etabliert worden sind, da nicht nachvollziehbar ist, was eine frühneuzeitliche Angleichung an etwa eurasische oder vorderasiatische Varianten ausgelöst haben sollte. Auch ohne den Vogelflug prominent zu präsentieren, folgt daher aus der Datierung der untigen Stoffe bis zurück in das 12.-13.Jh. die Verbreitung einer AT301-Variante mit Drachenkampf und Vogelflug vor dem Jahr 1200.
Diese Argumentation ist jedoch nur indirekt, durch den frühmittelalterlichen Beowulf und Motive der vorchristlichen Mythologie sowie durch Vergleich mit frühen antiken Varianten von AT301 (Konon) lässt sich eine frühe Variante mit Drachen und Vogelflug auf direktere Weise zeigen.


Bevor ich zur Kurzzusammenfassung der einzelnen Texte komme, zunächst eine tabellarische Übersicht mit den wichtigsten Befunden.

Bezogen auf obige Tabelle lässt sich festhalten:
  • In 8 Fällen (40%) aller Datensätze ist der Held von wunderbarer Abstammung oder Stärke
  • In 10 Fällen (50%) findet der Kampf mit dem Unhold in einem fernen Land statt, 3 mal jenseits des Meeres, 2 mal in einer Höhle, 3 mal auf/in einem hohen Berg oder Gebirge, 2 mal jenseits der Waberlohe. Eine klare Tendenz für Lokalisierung in der Unterwelt (wie im Märchen) fehlt.
  • In 13 Fällen (65%) gibt es einen übernatürlichen Helfer, davon in 69% (9/13) ein Zwerg, in unterschiedlichen Traditionen davon 7 mal Alberich genannt oder etymologisch damit verwandt (Albericus, Auberon, Alfrik). Der gemeinsame Name deutet auf gemeinsamen (und späten) Ursprung dieser Überlieferung, der vor den Untergang des Fränkischen als Umgangssprache am französischen .Hof fällt, d.h., wohl vor das Jahr 1000.
  • In 11 Fällen (55%) ist der besiegte Unhold ein Drache, in 4 (20%) Fällen ein nicht rechtgläubiger Monarch, in 3 Fällen (15%) ein Riese. Diese schließen einander nicht aus.
  • In 11 Fällen (55%) bekommt der Held seine Waffen durch seinen Helfer oder findet sie im Wohnort des Unholds.
  • In 12 Fällen (60%) geht es um Frauen (meist gemeinsam mit einem Hort), in 4 Fällen (20%) ausschließlich um einen Hort. Da Hortgewinnung ohne Eroberung/Befreiung von Frauen im Märchen nicht vorkommt, ist dieser Zug wohl urtümlich.
  • In 4, eventuell 5 Fällen (Heimir in der Thidrekssaga), kehrt der Held mit einem beim Unhold erworbenen und ggf. übernatürlichen Pferd zurück, in einem Fall durch einen Greifen (Raubvogel!), in einem durch Unterstützung eines Löwen (die "andere Hälfte" des Greifen), in einem durch einen Wassergeist. Vögel spielen kaum eine Rolle, weisen jedoch den Weg (2 mal). Zumeist reitet der Held jedoch, was nicht weiter ausgeführt wird.
  • In 11 Fällen (55%) wird der Held durch Kleinodien, insbesondere Ringe, erkannt, in 2 Fällen durch Körperteile des Unholds, in 2 Fällen durch Kleidung
  • In 8 Fällen (40%) treten treulose Gefährten oder Konkurrenten des Helden um seine Braut auf, jedoch nur in zwei Fällen (Wolfdietrich, Huon, eventuell auch im Seifrid de Ardemont) ist das Motiv tatsächlich mit dem Märchen vergleichbar, insofern als ein anderer sich als Held ausgibt (so dass dieser sich mit Drachenzungen bzw. Bart beweisen muss) und so der glücklichen Zusammenführung mit der befreiten Frau im Wege steht. Aber auch beiden fehlt aber der Aspekt, den Helden zurückgelassen zu haben. Der Betrug im ersten Teil der Siegfriedsage ist anderer Art, hier versucht ihr Begleiter (Mimir, Regin, Kuperan) vergeblich, dem Helden in den Rücken zu fallen. Der Betrug im zweiten Teil der Siegfriedsage ist ebenfalls anderer Art, denn hier wird nicht der Held, sondern die Jungfrau betrogen, allerdings fallen auch hier die Begleiter des Helden diesem (erfolgreich) in den Rücken.
Leider sind diese Ergebnisse nicht nach statistischen Kriterien auswertbar, da die mittelalterliche Literatur durch einen hohen Grad gegenseitiger Einflussnahme charakterisiert war und die jeweiligen Traditionen keine Gleichverteilungsannahmen erfüllen, doch scheint das gemeinsame Auftreten dieser Charakteristika die wesentlichen Elemente von AT301 in der hoch- und spätmittelalterlichen Heldenepik zu bestätigen. In folgenden Blogposts hoffe ich diese weiter in die Vergangenheit zurückverfolgen zu können, idealerweise mittelfristig unter Verwendung computerlinguistischer Methoden, denn als Mediävist bin ich bestenfalls interessierter Laie ;)

1. Huon von Bordeaux

Huon of Bordeaux is the title character of a 13th-century French epic (chanson de geste) with romance elements. He is a knight who, after unwittingly killing Charlot, the son of Emperor Charlemagne, is given a reprieve from death on condition that he fulfill a number of seemingly impossible tasks: he must travel to the court of the Amir in Babylon and return with a handful of the amir's hair and teeth, kill the Amir's mightiest knight, and three times kiss the Amir's daughter, Esclarmonde. All these Huon eventually achieves with the assistance of the fairy king Oberon. (Wikipedia)
Diese der Einfachheit halber aus der Wikipedia kopierte Zusammenfassung möge hier zur Gestalt der Sage genügen, ansonsten sei auf die sehr detaillierte Analyse von Voretsch (1900) verwiesen, der historische und märchenhafte Züge identifiziert und isoliert hat. 
Die historische Grundlage ist wahrscheinlich der Tod von Karl dem Kind, Unterkönig von Aquitanien, der 864 in einem Scheinkampf mit seinem Jagdgenossen Albuin versehentlich durch einen Schwertschlag an seinen Kopf verletzt wurde und 866 an den Folgen starb (Giese 2011, S.273, Fußnote 25). Durch den Namen seines Vaters Seguin ist der Titelheld mit Seguin II verbunden, 840-846 Graf von Bordeaux, seit 845 Herzog der Gascogne. 
Nach Abzug dieser historischen (oder historisierenden) Elementen verbleibt damit ein Kreuzfahrerroman, in dem ein König den Helden in die Ferne schickt, um einen Emir bzw. dessen Kämpfer zu töten und ihm seine Tochter zu rauben. Er begegnet in einem Wald dem Zwergenkönig Auberon (Oberon), der ihn zunächst provoziert, aber dann als magischer Helfer agiert. Huon kann so die unmögliche Aufgabe bewältigen, kehrt zurück, wird jedoch durch seinen Bruder verraten und vor dem König angeklagt. Durch Zähne und Haar des Emirs erweist er sich jedoch als wahrer Held, und während sein Bruder bestraft wird, kann er mit der frisch angetrauten Emirstochter sein Erbe antreten.
Nach Abzug weiterer offensichtlich später Elemente (Emir, Kreuzzug, sich wiederholende Episoden von Riesenkämpfen, weitere -- außerhalb dieser Erzählung sonst nicht belegte -- Verwicklungen bei der Rückkehr, offensichtliche Entlehnungen), und vor allem durch Vergleich mit Ortnit (siehe unten), Seyfried und modernen Märchen entwickelt Voretzsch eine Rekonstruktion der dem Huon zugrundeliegenden Erzählung, die er in fränkischer Zeit verortet. Natürlich ist es für meine Argumentation problematisch, auf dieser Basis eine frühe Datierung von AaTh 301 zu unterstellen, da Voretzsch für den "Urhugo" (der AaTh 301 im Wesentlichen folgt), moderne Märchen dieses Typs als Rekonstruktionsgrundlage verwendet hat -- jedoch nicht als einzige Grundlage. Jedoch dient das Märchen nur als eine der Argumentationsstützen. Eine andere ist die etymologische Äquivalenz des französischen Auberon mit dem deutschen Alberich, der im Ortnit wie auch in der Siegfriedssage auftritt: Auberon ist die Diminuitivform zu einem Namen Aub(e)ry, der lautgerecht aus dem deutschen Alberich bzw. dessen fränkischen Vorbild abgeleitet werden kann. Diese Etymologie stellt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Seyfried, Huon und Ortnit her und gestattet, übereinstimmende Elemente dieser Sagen auf eine gemeinsame Vorlage zurückzuführen, und unabhängig von Voretzsch hat Panzer (1912) für den Seyfried ein Märchen vom Typ AT 301 als Grundlage postuliert (dazu später).
Im folgenden zitiere ich Voretzsch (1900, S.351f.) und verknüpfe dies mit den oben eingeführten Motiven nach Bolte-Polivka. Anmerkungen in eckigen Klammern sind Anmerkungen des Verfassers.
1. Herkunft des Helden
"Ein held elbischer abkunft wächst (in der obhut der mutter) heran ohne seinen rechten vater zu kennen." (so Ortnit, vgl. die nordische Völsungensage und die faröischen Sigurdlieder wo Sigurds Vater vor seiner Geburt stirbt und Sigurd von Vaterrache getrieben wird)
2. Aufbruch, die Episode mit dem Zwerg
"Als er erwachsen ist, zieht er aus, sei es um den vater zu suchen [vgl. Völsungensage], sei es um eine königstochter, von der er gehört, zu befreien [Huon, Ortnit, Hürnen Seyfried] oder um sonst etwas zu erleben."
"Im walde trifft er (...) den elbischen (...) Alberich [Ortnit: sein bislang unbekannter Vater] (...), nach einem ersten feindlichen zusammenstoss sichert ihm dieser seine hilfe zu für die befreiung einer schönen königstochter"
Alberich entspricht nach Voretzsch dem Zwerg (Erdmann) des Märchens.
3. Abstieg in die Unterwelt, Drachenkampf und Jungfrauenrettung
Bei Huon und Ortnit fehlt jeder Abstieg, statt dessen findet sich eine Fahrt über Wasser.
"Alberich (...) sichert ihm (...) seine hilfe zu für die befreiung einer schönen königstochter [Huon, Ortnit, Hürnen Seyfried] aus der gewalt eines riesen [Huon, Ortnit] (drachen [Ortnit/Wolfdietrich, Hürnen Seyfried]) und giebt ihm ein kleinod (horn, flötenpfeife, ring), vermittels dessen der held den elbischen beschützer in der not jederzeit herbeirufen kann." (Das Motiv des Kleinods findet sich auch in den mittel- und westeuropäischen AaTh 301 Varianten des Aufstiegs mit Hilfe eines Geistes und geht wegen der geographischen Konzentration vielleicht auf Einfluss aus Heldensagen von diesem Typus zurück.)
"Begleitet wird er auf der fahrt von einem alten, welterfahrenen helden (Alhelm, Gerhelm -- Iljas [Ortnit, Huon]), zu dem (...) in späterer darstellung (...) elf gesellen treten [nur Huon]."
"Das schwert, mit dem allein er den schweren kampf zu bestehen vermag, erhält er vom elbischen vater (so Ortnit) oder findet es nach dessen anweisung in der behausung des feindes selbst (so in den märchen, leicht variiert im Hürnen Seyfrid -- vgl. noch den dem riesen gehörigen unverletzbaren panzer im Huon)."
"Das feindliche ungeheuer (riese, drache) wird von dem helden getötet, die jungfrau befreit" (Tatsächlich findet sich im Huon nicht nur der Tod des Emirs, sondern auch der eines Riesen, was Voretzsch auf Verdopplung des Motivs zurückführt. Dieselbe Verdopplung scheint auch der zweimaligen Befreiung von Jungfrauen zugrundezuliegen, da Huon zunächst im Schloss Dunostre seine Cousine befreit, indem er den Riesen tötet, erst in Babylon die Jungfrau Esclarmonde durch die Tötung des Emirs.)
4. Treulose Gefährten und Rückkehr aus der Unterwelt
Bei Huon und Ortnit/Wolfdietrich sind die treulosen Gefährten nicht die Begleiter des Helden auf seiner Fahrt, sondern Konkurrenten um sein Erbe (Huon, Wolfdietrich) oder seine Braut (Wolfdietrich), die seine Abwesenheit ausnutzen. Im Huon gibt es tatsächlich eine Episode, in der der Held allein und gefesselt am Strand zurückgelassen wird, jedoch nicht von seinen Gefährten, sondern von Piraten. Voretzsch bringt diese Episode nicht mit dem Märchen in Verbindung.
"durch einen zufall wird er [der Held] wider von ihr [der Jungfrau] getrennt" (Huon)
Ohne Abstieg in die Unterwelt (Huon, Ortnit) gibt es auch keinen Aufstieg. Dementsprechend fehlt das Motiv des Vogel- oder Geisterflugs, sondern es finden mehr oder weniger normale Reisen statt. Im Huon gibt es einen Meeresgeist, der den zurückgelassenen Helden zu seinen Gefährten trägt, allerdings tritt dieser auch bereits vor dem Kampf mit dem Unhold in als Träger auf.
5. Ringerkennung, Bestrafung und Happy-End
Voretzschs Rekonstruktion dieses Teils orientiert sich stärker an den Märchen, da die Heldensagen hier stärker voneinander abweichen.
Der Held "kommt gerade in den palast ihres vaters [Hürnen Seyfried; Wolfdietrich: in ihren eigenen Palast; Huon: den Palast seines Vaters bzw. den Gerichtssaal des Königs], als sie hochzeit mit dem vermeintlichen befreier halten soll [vgl. Wolfdietrich]. Vor diesem erweist sich der held als der wahre sieger durch die wahrzeichen (...) [Huon: Barthaare, Zähne; Wolfdietrich: Drachenzungen, Ring Ortnits], er bekommt nun die prinzessin, jener wird an den galgen gehängt (oder an vier tiere gebunden und zerrissen)."
Voretzsch verlegt diese Sage in spätkarolingische ("austrasisch-neustrische") Zeit und nimmt an, dass ihr fränkisches Vorbild auch Urbild der deutschen Ortnitsage gewesen sei: "Ich sehe (...) nicht viel dagegen sprechen, dass die austrasisch-neustrische sage im wesentlichen noch mit der alten fränkischen sage identisch gewesen ist. Die abweichungen der Ortnitdichtung von der hier charakterisierten sage lassen sich leicht als typische modernisierungsversuche erklären" (Voretzsch 1900, S.352).
In einigen Aspekten geht Voretzschs Interpretation meiner Meinung nach zu weit, etwa, wenn er Alberich zum Vater des Helden erklärt, wofür es außerhalb des Ortnit nur wenig Anzeichen gibt und was auch im Märchen bestenfalls vereinzelt belegt ist. In anderen geht er über große Textteile sehr rasch hinweg (v.a. die Rückkehr), was allerdings durch deren Einzigartigkeit (in Märchen und Heldensage) gerechtfertigt erscheint. Das obige Exzerpt enthält daher v.a. diejenigen Teile, die durch Parallelen in Ortnit oder Seyfrid gestützt sind. Aufgrund der Verknüpfung mit Kreuzzungsmotiven erscheinen orientalische Elemente im Huon grundsätzlich denkbar, und es gibt in der Tat synkretistische Züge (das sich selbst nachfüllende Horn im Huon deutet auf bretonische Vorbilder aus dem Umfeld der Gralsdichtung, das Schloss des Riesen heißt Dunostre, scheinbar aus dem erst kurz zuvor verfassten anglonormannischen Roman de Fergus übernommen, der ähnliche Motive aus keltischen Quellen enthält -- und in dessen geographischem Umfeld die Nennung einer real existierenden schottischen Festung weniger überrascht als hier). Durch die Annahme einer mit dem Ortnit gemeinsamen Vorlage und deren Verankerung in unabhängigen germanischen Quellen (Hürnen Seyfried) kann die gemeinsame Grundlage jedoch als germanisch bestimmt und bis in die Zeit vor vollständiger Romanisierung der westfränkischen Eliten und vor die endgültige Spaltung des fränkischen Reiches durch Gründung des Heiligen Römischen Reiches zurückprojiziert werden.
Diese Vorlage kann eine Alberich-Sage gewesen sein. Tatsächlich haben sich Spuren einer solchen nicht nur im Ortnit und dem Nibelungenlied, sondern auch in der französischen Chronik von Hugo von Toul bewahrt (14.Jh., nach angeblichem Original aus dem 12.Jh.).

2. Albericus bei Hugo von Toul

Nach Pio Rajna und Gaston Paris "gab es eine germanische werbungssage, in welcher der protagonist unterstützt wird von einem hilfreichen zwerg, der in wirklichkeit sein vater ist. (...) [W]as Hugo von Touls über Chlodions sohn Albericus berichtet und schon G. Paris in bezug zu Auberon gesetzt hatte, liesse sich als einfluss dieser sage deuten" (Voretzsch 1900, S.256):
Darnach war Albericus der jüngste von Chlodions söhnen, ebenso geschickt und klug als kühn und tapfer. Er lebte die meiste zeit in den wäldern, opferte göttern und göttinnen, von denen er auch seine einsetzung in die herrschaft des reiches erhoffte, und erneuerte die heidnische sekte. Viele burgen hat er gegründet, viele städte neu aufgebaut. Dem rechtmässigen känig Meroväus und seinen anhängern lieferte er mehrere siegreiche schlachten. Von seinen gegnern ward er boshafter weise der zauberer genannt, weil er von ihnen nicht besiegt werden konnte. Seinen ältesten sohn, Walbert, verheiratete er mit der schwester des kaisers von Konstantinopel. Nach seinem namen waren endlich mehrere berge genannt, wo er heidnische altäre errichtet haben soll, und ebenso hiess nach ihm der baumreiche ort, wo er begraben lag: mons Alberici, coma und hiippa Alberici. Ähnliches findet sich noch bei späteren chronisten, welche diesen Albericus dann einfach mit Auberon identificieren. (Voretzsch 1900, S.266)
Etwas präziser das Exzerpt bei Weisker (1905, S. 31):
Clodion, König der Franken, übergibt bei seinem Tode die Vormundschaft über seine 3 Söhne dem Merovaeus, seinem magister equitum, der treu die Regierung führt. Als aber die Nachbarn in das Reich einfallen, läßt er sich vom Volke zum König ausrufen, bevor er sich zur Gegenwehr rüstet. Die Witwe Clodions flieht mit ihren Kindern nach Austrasien. Herangewachsen bekriegen die drei Söhne Clodions, Alberich, Reginald und Rhauturus den Merovaeus fortwährend und entreißen ihm einen Teil der ihnen rechtmäßig zukommenden Länder. Das dadurch erstarkte Austrasien bildet eine beständige Gefahr für Merovaeus und seine Nachkommen. (VI, 314)
Alberich, des Clodion Sohn, begabt mit großer Geschicklichkeit und Kühnheit, schlägt die Merovinger mehrere Male in offner Feldschlacht. Er lebt meistens im Walde, bringt den Heidengöttern Opfer dar und baut viele alte Burgen wieder auf. Seine Gegner, die ihn vergebens zu besiegen trachten, nennen ihn einen Zauberer. Er stirbt in hohem Alter und wird auf einem Berge begraben, den das Volk „Coma seu Huppa Alberici" nennt. Vor seinem Tode verheiratet er seinen Sohn Waubert mit einer Schwester des Kaisers Zeno. (VI, 336)
Voretzsch (1900, S.266) urteilt:
Auch dieser Albericus erscheint wie Auberon als ein zauberkundiges wesen, als ein bewohner der wälder, das heisst als ein waldgeist, und ein zweifel über die identität der beiden ist durch die übereinstimmung im namen völlig ausgeschlossen. Altertümlich gegenüber dem Huon ist in der von Hugo von Toul berichteten sage die namensform, welche genau zum deutschen namen Alberich stimmt, altertümlich ist ferner die charakteristik Alberichs als eines heiden ...
Diese Sage wurde von Jacques de Guise (14.Jh.) überliefert, der sie auf Hugo von Toul (12.Jh.) zurückführt, was sich allerdings nicht endgültig erhärten lässt (vgl. Weisker 1905). Geht sie nicht auf Hugo von Toul zurück, so reflektiert sie eine Lokalsage des 14.Jh. Entscheidend für unsere Diskussion ist jedoch eigentlich nur, dass Alberich als Werbungshelfer auftritt, die mit einer Fernreise (Konstantinopel) verbunden wird. Die Historisierung des Riesen (oder Drachen) als byzantinischem Kaiser ist vergleichbar zur Rolle ausländischer (antagonistischer) Schwiegerväter bei Huon und Ortnit, eigentliche Kreuzzugsmotive fehlen jedoch, was diese Überlieferung in größere Nähe zu Ortnit (nicht Wolfdietrich) stellt und damit auf eine mögliche Brücke zwischen diesen hinweist. Obgleich das Motiv des Drachenkampfes hier nicht unmittelbar auszumachen ist, kann es aufgrund der Übereinstimmung auch diese für die gemeinsame Vorlage angenommen werden.
Diese Sage ist auch die wesentliche Quelle von Voretzschs Annahme von Alberich als Vaterfigur.

3. Ortnit und Wolfdietrich

Ortnit und Wolfdietrich sind die Protagonisten zweier ineinander verflochtener deutscher Heldensagen, die im Wolfdietrichepos (13.Jh.) zusammengeführt wurden. Der Einfachheit halber die Zusammenfassung aus der Wikipedia, bereinigt um Interpretationsartefakte und inhaltlich gegliedert:
1. Ortnits Brautraub
"Ortnit, Herrscher von Lampartenland, (...) [lebte] auf seiner Burg zu Garda (...). Bevor der auf die gefährliche Reise nach der Burg Montabur aufbricht, wo er die Tochter des heidnischen Königs Machorel für sich gewinnen will, gibt ihm seine Mutter einen Ring und rät ihm, in den Bergen Hilfe zu suchen. Er findet sie dort in Gestalt des elfenhaften Zwergs Alberich, der bekennt, sein eigentlicher Vater zu sein. Alberich stattet ihn mit einer goldenen Rüstung und dem Schwert Rose aus, das sogar Steine und Drachenhaut zu durchdringen vermag. Nur durch die Hilfe des unsichtbaren Alberichs, der ihn auf der Reise begleitet, gelingt es, die Königstochter zu entführen." (Wikipedia)
2. Ortnits Drachenkampf und Tod
"Wieder im Lampartenland erhält das nun vermählte Königspaar Besuch von einem Boten Machorels aus Montabur, der ihnen ein besonderes Versöhnungsgeschenk überreicht: Eier, aus denen Echsen schlüpfen werden, die einen besonders großen Edelstein in sich tragen. Ortnit erlaubt dem Jäger, die Eier in die Berge zu bringen und den Schlupf zu überwachen und großzuziehen. In Wirklichkeit sind es Dracheneier. Als die Drachen zur Plage werden, zieht Ortnit aus, um sie zu bekämpfen, nimmt aber den Ring seiner Frau mit, die er bittet, nur dem zu glauben, der ihr diesen Ring wieder bringt. Trotz Warnung Alberichs, der ihm noch begegnet, schläft er ein und wird von dem Drachen seinen Jungen vorgeworfen. Später wird Wolfdietrich den Drachen und seine Brut töten und die verwitwete Königin für sich gewinnen." (Wikipedia)
3. Die Geburt Wolfdietrichs (nur in Handschrift B)
"Hugdietrich von Konstantinopel gewinnt, als Mädchen (Hildegunt) verkleidet, des Königs Walgunt von Salnecks schöne Tochter Hildburg, mit der er einen Sohn enengt. Dieser wird heimlich ausgesetzt und von Wölfen verschleppt, von einem Jäger gefunden, gelangt er an die Mutter. Walgunt willigt in die Ehe der Tochter mit Hugdietrich, der Weib und Kind heimholt Der von den Wölfen verschleppte Knabe wird Wolfdietrich genannt." (Goedecke 1884, S.192, vgl. Wikipedia)
4. Wolfdietrichs Vertreibung
Wolfdietrich wird als Sohn Hugdietrichs, König von Konstantinopel, geboren. Auf Betreiben des bösen Ratgebers und intrigierenden Höflings Sabene wird ihm, weil er angeblich ein Bastard ist, von seinen Brüdern sein Erbe abgesprochen. Er kann der Belagerung der Burg des zu ihm stehenden Herzogs Berchtung als einziger entkommen und verspricht, keine Frau zu nehmen, bevor er seine Gefolgsleute nicht befreit habe, flieht und erreicht nach vielen Abenteuern das Lampartenland. (mit Umstellungen zitiert nach der Wikipedia)
5. Wolfdietrich als Rächer und Nachfolger Ortnits
Im Lampartenland kann Wolfdietrich die Krone gewinnen, indem er den Drachen tötet, dem König Ortnit erlegen ist. Der betrügerische Herzog Wildung jedoch schneidet den bereits toten Drachen die Köpfe ab, um sich als Held und berechtigter Thronfolger präsentieren zu können. Mit dem Ring Ortnits, den Wolfdietrich in den Weinkelch gleiten lässt, erkennt die Lampartenkönigin jedoch Wolfdietrich als Rächer Ortnits, der den Drachen besiegt hat. Mit Hilfe der Drachenzungen, die Wolfdietrich dem Drachen und seinen Jungen heraus geschnitten hat, wird Wildung entlarvt. (mit Umstellungen zitiert nach der Wikipedia)
6. Wolfdietrichs Rückkehr und Königtum
Mit Unterstützung der Ritter des Lampartenlandes kann er die ihm treu gebliebenen Söhne Berchtungs befreien und die Herrschaft über Konstantinopel wiedererlangen. (Wikipedia)
Zur traditionellen Deutung nach Möllenhoff (1845), die zumindest in religionshistorischen Kreisen noch immer aufrecht gehalten zu werden scheint, siehe die Zusammenfassung bei Paul (1893, S.34ff). Danach offenbahrt sich hierin (und -- das ist der Schwachpunkt dieser Interpretation -- praktisch nur hierin) der niederdeutsche Hartungenmythos, letztlich eine Erzählung mythologischer Zwillinge in Parallele zu den antiken Dioskuren. Ich halte das für etwas spekulativ, würde es aber nicht grundsätzlich ausschließen wollen, zumal sich damit ein Bezug zum Zweibrüdermärchen ergibt, dessen hohes Alter durch das altägyptische Batamärchen (AaTh 318) gesichert ist. Hier ist durchaus denkbar, dass beide Motive aus unterschiedlichen Quellen zusammengewachsen sind und dass die ursprüngliche mythologische Quelle des Ortnit eher AaTh 301 folgte, die ursprüngliche mythologische Quelle des Wolfdietrich eher AaTh 318. Dies ist auch die Position von Voretzsch (1900), allerdings durchaus nicht unwidersprochen (zu Diskussion und Forschungsgeschichte siehe Miklautsch 2005, S.84). Ein historischer Teil lässt sich dabei vor allem für Wolfdietrich ausmachen: Voretzsch (1900, S.279f.) identifiziert ihn, Möllenhoff 1845 seinen Vater Hugdietrich, als Theuderich I., 511-533 ostfränkischer König. Wolfdietrichs Biographie selbst zeigt zudem deutliche Züge von dessen Sohn Theudebert I, 534-547. Lautlich ist auch eine Identifikation mit Theoderich dem Großen möglich, 474-526 König der Ostgoten, der in der deutschen Heldensage als Dietrich von Bern prominent und eigenständig erscheint, aber in der norwegisch-niederdeutschen Thidrekssaga, wenn auch wohl sekundär, mit Wolfdietrich identifiziert wird. Die Rahmenhandlung der Wolfdietricherzählung stützt diese Identifikation, womit hierin ein Echo des merowingischen Bruderkriegs erblickt werden kann, der ja auch z.B. im Nibelungenlied im Konflikt von Kriemhild und Brünhild im Bade (eventuell Fredegunde und Brunichild) literarisch verarbeitet wurde. Ungleich schwieriger historisch zu erklären ist dagegen die Figur des Ortnit, so dass für diesen Teil der Erzählung am ehesten unverfälschte märchenhafte oder mythologische Elemente zu vermuten sind.
Voretzsch (1900) nimmt an, dass die Figur des Wolfdietrich in der Ortnitsage unursprünglich ist und dass diese ursprünglich mit der glücklichen Vereinigung des Helden mit seiner Königin endete, zudem, dass erst durch die Einfügung von Wolfdietrich in die Erzählung die Notwendigkeit entstand, Ortnit sterben zu lassen. Durch dessen Tod verändert sich jedoch der Charakter des Drachenkampfes völlig, so dass dieser dupliziert (eigentlich verdreifacht) wurde, um die neue Brückenhandlung mit der ursprünglichen Brautraubgeschichte in Einklang zu bringen. Das heißt, nicht nur der Drachen selbst, sondern auch der heidnische König Machorel geht auf die Figur des Unholds zurück (wohl ebenfalls eines Drachen, da er Zugang zu Dracheneiern besitzt). Die Ausgestaltung als nicht rechtgläubiger Monarch eines fernen Landes und Schwiegervater wider Willen ist völlig analog zu der des Unholds im Huon (Unhold durch muslimischen Emir ersetzt) und bei Hugo von Toul (Unhold durch griechisch-orthodoxen Kaiser ersetzt). Züge von Ortnits ursprünglichem Drachenkampf wurden nach dessen Niederlage auf Wolfdietrich übertragen, dessen Rolle in der Ringerkennung und der Enttarnung des betrügerischen Freiers sich dadurch erklärt. Das bewirkt auch eine (nicht die einzige) mögliche Erklärung eines logischen Problems, denn eigentlich wirkt die Ringerkennung im Wolfdietrich deplatziert: Hier erkennt nicht eine Gattin (oder Braut) den verschollenen Ehemann (oder Retter), sondern es handelt sich um einen völlig Fremden, der den Ring ihres toten Gatten an sich gebracht hat -- mit welchen Mitteln auch immer. Man muss Voretzsch nicht in allem zustimmen, aber seine These gestattet die Rekonstruktion einer Grunderzählung, die in wesentlichen Teilen zu Huon stimmt und diesen dadurch erklärbar macht. Die Ringerkennung eines Fremden und der Tod des Protagonisten im Drachenkampf sind dagegen meines Wissens sonst nicht belegt, was auf ihre Unursprünglichkeit hinweist. Die Annahme einer gemeinsamen Vorlage ist daher naheliegender, jedoch nur aus methodischen Gründen (Occam's Razor: es muss nur eine Vorlage postuliert werden, nicht zwei, und es ist nicht notwendig, weitreichende Annahmen über gemeinindoeuropäische Glaubensvorstellungen zu machen, um das Wolfdietrichepos in seiner überlieferten Gestalt zu erklären), nicht aufgrund beweisbarer Fakten. Voretzschs Rekonstruktion des Ur-Hugo gilt damit auch für den Ur-Ortnit, wobei teilweise andere Akzente erkennbar sind: Der Held ist von übernatürlicher Abstammung (Ortnit: Alberich, Wolfdietrich: von Wölfen gesäugt), seine treulosen Brüder machen ihm sein Erbe streitig (Wolfdietrich, nicht Ortnit), der Held tritt keine Unterweltsfahrt, sondern eine lange Reise (Wolfdietrich: zur See, Ortnit: Brautfahrt zur See, Drachenkampf im Gebirge) an, der Unhold ist ein Drache (kein Riese), die Jungfrau ist seine Tochter (Ortnit: Brautfahrt), der Held ist von ihr getrennt (Wolfdietrich, nicht Ortnit), der Betrüger strebt nach ihrer Hand (Wolfdietrich), der Drachentöter offenbahrt sich durch Ringerkennung und abgeschnittene Zungen (Wolfdietrich). 
Auch hier fehlt das Motiv des Abstiegs in die Unterwelt und das der Rückkehr mit Hilfe eines Vogels oder Geistes, jedoch sind die Jungen des Drachen erwähnenswert, die Ortnit verschlingen: In vielen Varianten von AaTh 301 trägt der Vogel den Helden v.a. deswegen zurück, weil dieser zuvor seine Jungen gerettet hat, und auch hier wird der Held (teilweise) gefressen, denn der Held muss den Vogel mit seinem eigenen Fleisch füttern. Falls hierin ein Echo der Rückkehr mit Hilfe eines Raubvogels zu erblicken ist, ist es jedoch nur sehr schwach ausgeprägt und nicht eindeutig identitizierbar. Auch im Hürnen Seyfrid ist der zweite Drachen nicht allein, sondern von seiner Brut umgeben, eventuell ist daher hierin eine frühe Verschmelzung des Raubvogels mit dem Drachen zu erkennen. Moderne Märchen zeigen ähnliche Verschmelzungen ebenfalls, jedoch nur vereinzelt und auf unterschiedliche Weisen, wenn entweder der Unhold als oder mit Adler erscheint, oder der Unhold selbst den Helden zurückträgt.

4. Hertnid in der Thidrekssaga

Die Thidrekssaga ist eine altnordische Kompilation von Heldensagen rund um Dietrich von Bern, die im 13.Jh. in Oslo entstand, sich jedoch auf (nieder-)deutsche Vorbilder (Lieder und Sagen) beruft. In ihrer Grundkonzeption ist sie stark synkretistisch geprägt, indem praktisch sämtliche bekannten germanische Heldenfiguren des Hochmittelalters (und auch außergermanische, wie etwa Artus, König des Bertangenlandes [= Britannien], oder Könige mit biblischen und romanischen Namen wie Salomon und Apollonius) in den weiteren Kontext der Biographie Dietrichs von Bern gestellt werden. Hierzu zählen u.a. Wieland der Schmied, Siegfried und die Nibelungensage, originäre Dietrich-Überlieferungen sowie eine Variante der Erzählung von Ortnit und Wolfdietrich, hier unter den Namen Hertnid und Thidrek, wobei letzterer sowohl mit Dietrich von Bern als auch mit Wolfdietrich gleichgesetzt wird.
Die Thidrekssaga ist aus ihrer Natur heraus stark synkretistisch, so dass es nicht ohne weiteres möglich ist, ihre Teile jeweils getrennten Ausgangsüberlieferungen zuzuordnen, insbesondere, wo unterschiedliche Figuren mit verwandtem Namen (Dietrich und Wolfdietrich) zusammengefallen sind. Hier betrachte ich daher zunächst nur die unmittelbar mit Hertnid in Zusammenhang stehenden Teile der Thidrekssaga. Als Textgrundlage dient dabei Raszmann (1863, zu den Kapitelnummern C.XYZ siehe dort S.704).
1. Hertnid (I.) wird König des Wilcinenlandes (C.21ff.)
Wilcinus war eponymer König des Wilcinenlandes in Südskandinavien (C.21) und Ahnvater eines Geschlechtes von Riesen (vgl. die Söhne Nordians, C.27). Er eroberte das Land des russischen Königs Hertnid, wobei dessen Bruder Hirdir fiel (C.21-22). Nach Wilcinus' Tod befreite sich Hertnid von der Vorherrschaft seines Sohnes Nordian und nahm das Wilcinenland ein (C.24-25). Ihm folgten seine Söhne Osantrix und Waldimar als Nachfolger im Wilcinenland bzw. Russland. Nordian, und nach ihm sein riesenhafter Sohn Aspilian regierten als Unterkönige von Schweden (C.25-27).
2. Osantrix' Brautfahrt (C.28ff)
Hertnid (II.) und Hirdir (bzw. Osid), die Söhne seines Halbbruders Ilias kommen an den Hof von Osantrix, König des Wilcinenlandes und werden dessen Jarle (C.30). Er schickt Hertnid gemeinsam mit 11 Gefährten zum hunnischen König Milias, um um dessen Tochter Oda zu freien. Diese werden jedoch festgesetzt (C.32-33). Mit einem Heer zieht Osantrix zu Milias, der ihn jedoch abweist (C.34-36). Der Riese Aspilian greift daraufhin Milias an, der flieht, sein Bruder Widolf befreit Hertnid, die Wilcinen führen Osantrix seine Braut Oda zu und er fährt heim (C.36-38).
3. Osantrix' Tod (C.134ff)
Nach einer Schlacht zwischen Osantrix und Attila, Nachfolger des hunnischen Königs Milias setzt Hertnid Widga, einen Genossen Thidreks, gefangen (C.134-137). Thidrek schickt den Spielmann Isung auf Kundschaft nach Widga, der mit Wildifer ("Wildeber") in der Verkleidung eines Tanzbären an den Hof Osantrix' reist, dort Osantrix und seine Riesen erschlägt und Widga befreit (C.140-144).
Zu Osantrix' Tod heißt es andernorts, er sei im Kampf gegen Ulfrad, Thidreks Verwandten gefallen (C.292), bzw. durch Verschulden von Isung von Bertangenland (C.350), was mit dieser Erzählung nicht direkt vereinbar ist (Raszmann, S.285), sofern man nicht den Spielmann Isung mit dem König von Bertangenland identifiziert, dem nach C.134 der Riese Atgeir, ein Sohn von Nordian, dient. 
4. Hertnids Kampf mit Isung (C.349ff.)
Hertnid, Neffe und Nachfolger Osantrix' war verfeindet mit Isung dem Starken, König von Bertangenland (Britannien), dessen Reich er verheerte, worauf Isung und seine Söhne wiederum in das Wilcinenland einfielen (C.349-351).
Hertnid stellt sich Isung entgegen, siegt jedoch nur mit Unterstützung siner zauberkundigen Gattin Ostacia, die sich in einen Drachen verwandelt, und ihm mit einem Heer von Drachen und wilden Tieren zu Hilfe eilt, jedoch aufgrund ihrer Verletzungen bald stirbt (C.349, 352-355). Nach C.355 existiert eine weitere große Sage von Hertnid, womit eigentlich nur das folgende gemeint sein kann.
5. Hertnids Drachenkampf und Tod (C.417)
Hertnid, König in Begara (= Hertnid II?), "war Tag und Nacht in dem Wald geritten, und den andern Tag darauf ... kam ihm ein Feind von ihm entgegen, und der sagte ihm nun einen groszen Kampf an: aber das war ein Wurm, der war dick und lang und hatte einen grossen Rachen und starke Füsze. König Hertnid ritt den Drachen an, mehr aus Hitze und Vermessenheit, als aus Verstand, denn dieser Drache war so stark, dasz, sobald sie zusammen kamen, der Drache ihn mit seinen Klauen ergriff und mit ihm in ein tiefes Thal flog. Dort war ein Berg und eine grosse Höhle, und darin hatte der Drache drei Junge, denen warf er den todten König vor; sie fraszen dessen ganzes Fleisch von den Gebeinen und der Drache warf all dessen Waffen und Gebeine aus seinem Lager fort." Nach dem Tod des Königs sammelt sich ein Heer von Räubern und bedroht die Burg seiner Witwe Isold (C.417).
6. Thidrek als Rächer und Erbe Hertnids (C.418ff.)
Allein auf Jagd (C.416), folgt Thidrek der Spur der Räuber und beobachtet den Kampf eines Löwen gegen einen Drachen. Er steht dem Löwen (seinem Wappentier) bei, jedoch zerbricht sein Schwert, er kämpft mit einem Baum weiter. Der Drache packt jedoch Thidrek mit dem Schwanz und den Löwen mit dem Rachen und fliegt zu seinem Lager, wo er mit seinen Jungen den Löwen reißt und einschlägt. Thidrek findet Hertnids Schwert und erschlägt die schlafenden Drachen damit (C.418). Er findet und erkennt Hertnids gesamte Rüstung, insbesondere Helm, Schild und Brünne (C.419), die vielleicht dieselben sind, die Mimir für Hertnid (I.) von Holmgard geschmiedet hat und die Sigurd von ihm nahm (vgl. C.167), dann auch Hertnids Pferd (C.419), mit dem er den Räubern weiter folgt und zu Isolds Burg gelangt, die ihn von den Zinnen herab als ihren Gatten zu erkennen glaubt und ihm die Burgmannen zur Unterstützung schickt. Gemeinsam vertreiben sie die Räuber (C.420). Er offenbahrt sich den Burgleuten, die ihn gut aufnehmen (C.421), heiratet Isold, setzt Artus, einen Neffen von Isung von Bertangenland als Jarl ein und zieht heimwärts (C.422).
Nach Raszmann (S.177) basiert die Sage von Osantrix Brautwerbung auf der von König Rother und ist demnach sekundär, sie hat jedoch eine weitgehende Entsprechung in Ortnits (Hertnids) Brautfahrt und könnte diese daher in einer älteren Fassung der Sage überlagert haben. Auch hier ist der unfreiwillige Schwiegervater in spe ein ausländischer König, auch hier helfen übernatürliche Wesen, allerdings kein Zwerg, sondern ein Riese, und nicht nur mit Rat und Zauber, sondern durchaus physisch. Eine Grundlage für Möllenhoffs Rekonstruktion des Hartungenmythos findet sich in der Wiederholung des Brüderpaars Hertnid-Hirdir, wobei der zwei mal genannte Bruder Hirdir entweder stirbt (Hirdir I) oder im Handlungsverlauf rasch verschwindet (Hirdir II/Osid), da die Rolle des überlebenden Bruders durch Wolfdietrich-Thidrek ersetzt worden sei.
Eine andere Grundlage ist die mythologische Deutung der Kämpfe Hertnids (und Osantrix') gegen Nordian und Isung als die Auseinandersetzung zwischen Helden und Riesen bzw. solaren und chthonischen Kräften, die in der Thidrekssaga jedoch weitaus weniger eindeutig erscheint: Isung steht in keiner besonderen Beziehung zu Nordian, Osantrix dagegen ist eng mit Nordians Söhnen verknüpft, die Hertnid retten; Hertnid kämpft nicht nur gegen Drachen, sondern auch gemeinsam mit ihnen.
Derlei begleitende Riesenkämpfe (neben dem Kampf um die Jungfrau) finden sich jedoch auch im Seyfried und im Huon. Hertnids Motivation zum Drachenkampf bleibt unklar, eine dem Ortnit vergleichbare Brautwerbungsgeschichte verbirgt sich jedoch eventuell hinter Osantrix' Brautwerbung. Wie bei Huon und Ortnit handelt es sich bei dem Schwiegervater wider Willen um einen ausländischen (und andersgläubigen) Monarchen, es gibt jedoch keinen hierbei helfenden Zwerg, sondern einen Riesen. Tatsächlich taucht Alberich in der gewohnten Rolle in der Thidrekssaga auf, allerdings nur mit Bezug auf Thidreks Jugend und in einem anderen Zusammenhang (C.16).
Der Drachenkampf findet in einem tiefen Tal und dort in einer Höhle statt. Wie bei Seyfrid muss auch die Brut des Drachen erschlagen werden. Wie bei Beowulf und einigen Märchenvarianten erschlägt Thidrek den Unhold durch ein dort gefundenes Schwert im Schlaf. Ein interessantes, und auch schon im Wolfdietrich begegnendes, Detail ist der Kampf zwischen Löwe und Drachen, bei dem Thidrek dem Löwen gegen den Drachen beisteht. Dies kann man vergleichen mit der Hilfe, die der Held im Märchen oft den Jungen des Adlers gewähren muss, bevor dieser ihn auf die Oberfläche trägt. Genau diese Rolle nimmt der Löwe in einem, der Thidrekssaga nahestehenden altdänischen Lied von König Diderik und dem Löwen (Raszmann, S.667) ein, indem er einen Ausgang gräbt. Dass der Löwe hier als Helfer auftritt, hat Vorbilder in der mittelalterlichen Literatur, namentlich aus dem Erec, so ist verständlich, wie er hier die Rolle eines eventuellen älteren Raubvogels einnehmen konnte.
Anders als im Wolfdietrich gibt es keine betrügerische Brautwerber, die Rahmenhandlung des Wolfdietrich findet jedoch Entsprechungen in Thidreks Biographie: Wie Wolfdietrich ist er möglicherweise dämonischer Herkunft (C.14), er wurde aus seinem Reich vertrieben (von Erminrek), gewann es aber später zurück. Der helfende Zwerg Alberich (in seiner etymologisch entsprechenden Namensform Alfrik) tritt auf, allerdings als Helfer Thidreks, nicht Hertnids, entspricht in dieser Rolle wohl aber eher dem in Ecken Ausfahrt genannten Zwerg Albrian als Helfer Dietrichs von Berns als dem Alberich Ortnids. Albrian ist eine zu Auberon analoge, jedoch archaischere romanische Bildung aus *alb(e)ri (> afrz. *aub(e)ry) mit einem zu -on analogen Suffix -an, jedoch ohne Ausfall des auslautenden Vokals. Hier ebenfalls vergleichbar ist eventuell der Name des elbischen Vaters Högnis (Hagens) aus der Thidrekssaga, Aldrian, falls dessen -d- möglicherweise ursprünglich verschrieben für -b- ist, und dessen Rolle eine klare Entsprechung im Ortnit besitzt, jedoch auf eine gänzlich unabhängige Person angewandt wird.

5. Thidrek gewinnt Hildigrim

Die Thidrekssaga beschreibt auch Jugendtaten Thidreks, und unter diesen ist zu obigen Erzählungen die Gewinnung des Helmes Hildigrim von besonderem Interesse (zitiert nach Raszmann, Überschriften von mir ergänzt).
1. Begegnung mit Alfrik (Alberich) (C.16)
"Nun ist von dem zu sagen, dasz Thidrek und Hildibrand beide zusammen hinaus aus Bern ritten mit ihren Habichten und Hunden, ... Indem aber Thidrek einen Hirsch verfolgte, sah er, wo ein Zwerg lief. Thidrek wandte daher schnell sein Ross um Und setzte dem Zwerg nach, und ehe dieser in seine Höhle kam, konnte ihn Thidrek mit seiner Hand über dem Halse greifen und ruckte ihn zu sich in den Sattel. Dieses war Alfrik, der berüchtigte Dieb, welcher der geschickteste aller Zwerge war."
2. Alfrik rät (C.16)
"Da sprach der Zwerg: `Herr, wenn ich mich und mein Leben von euch lösen kann, so will ich dich dahin weisen, wo so viel Gold und Silber und allerlei Kleinode sein werden, dasz dein Vater nicht halb so viel fahrende Habe besitzen wird gegen dieses. Und dieses Gut haben zwei Menschen nemlich eine Frau, die heiszt Hilde und ihr Mann Grim, und der ist überaus stark und hält sich zwölf Männern gleich an Stärke, aber sein Weib ist doch stärker, und sie sind beide grimmig und bös. Auch hat er das Schwert, welches Naglhring heiszt, das ist das beste aller Schwerter, und dasselbe schlug ich mit meiner Hand. Aber nicht kannst du den Sieg erlangen, wenn du nicht zuvor sein Schwert gewinnst. Und das ist eine gröszere Ruhmthat für dich und deinen Fahrtgenoszen, nach diesem groszen Gut mit Mannhaftigkeit zu streben als meinen kurzen Leib und mein niedriges Gebein zu packen.'"
3. Alfrik gibt das Schwert Naglhring (C.16)
"Thidrek antwortete: `Nimmer kommst du mit dem Leben aus meiner Hand, bevor du schwörst, dasz du Naglhring noch diesen Tag mir in die Hand bringen willst, und darnach sollst du mich dahin weisen, wo die Herberge ist, von der du mir gesagt hast.'
Und also that der Zwerg, und nun liesz Thidrek ihn los und jagte nach Vögeln und Thieren den ganzen Tag bis zur neunten Stunde. Und als nach der neunten Stunde Thidrek und Hildibrand an einer Berghalde standen, da kam Alfrik dar mit Naglhring und übergab ihn Thidrek und sprach: `Siehe hier an dieser Berghalde eine Klippe, da ist das Erdhaus, von dem ich dir gesagt habe. Nimm nun dort Kleinode denn deren gibt es da reichlich, aber fürwahr, kämpfet männlich, wenn ihr sie gewinnen wollt. Doch nimmer sollt ihr mich fortan in eure Grewalt bekommen, so lange ich lebe, wenn ihr auch zwei Menschenalter lebtet,' und alsbald war der Zwerg ganz verschwunden. Nun stiegen Thidrek und Hildibrand von ihren Rossen und banden sie an. Und darauf zog Thidrek das Schwert, welches ihm der Zwerg gebracht hatte, und das sagten sie beide, dasz sie nimmer ein schöneres und schärferes Schwert gesehn hätten."
4. Thidrek erschlägt Grim (C.16)
"Nun ist von dem zu sagen, dasz sie an die Berghalde giengen und dahin, bis dasz sie dort ein Erdhaus fanden. Und nun banden sie ihre Helme fest, spannten sich ihre Brünnen und Brünnenhosen und schwangen ihre Schilde vor sich. Und hierauf gieng Thidrek gar kühn in das Erdhaus hinein und Hildibrand gleich hinter ihm. Als aber dies der starke Berserker Grim sah, dasz Kriegsmänner in sein Haus gekommen waren, da griff er sogleich nach seiner Waffenkiste, vermiste aber sein Schwert; und es kam ihm nun in den Sinn, dasz es Zwerg Alfrik, der berüchtigte Dieb, gestohlen haben müste.
Er nahm darauf von dem Feuer einen brennenden Baum und gieng ihnen entgegen, und sie kämpften sogleich überaus tapfer. Hildibrand aber gewahrte es nicht eher, als bis Hilde so fest seinen Hals umschlungen hatte, dasz er keinen Stoss dagegen führen konnte. Und nun riszen sie sich gar tapfer lange Zeit, bis dasz Hildibrand fiel und Hilde oben auf um, und wollte ihn nun binden. Und so fest umspannte sie seine Arme, dasz das Blut aus allen Nägeln sprang, und so fest setzte sie ihre beiden Fäuste vor seine Brust, dasz er fast in Ohnmacht fiel. Da rief Hildibrand seinem Pflegling zu: `Herr Thidrek,' sagte er, `hilf mir nun; denn nimmer kam ich zuvor in solche Lebensgefahr!' Da antwortete Thidrek: `Fürwahr, will ich dir helfen, wenn ich es beszer vermag, und nicht will ich es dulden, dasz mein Pfleger und bester Freund durch ein Weib so grosze Not und beinah den Tod habe.' Und in demselben Augenblick hieb Thidrek Grim das Haupt ab."
5. Thidrek tötet Hilde (C.16)
"Und darauf sprang er dahin, wo sein Pfleger lag, und schlug Hilde in zwei Stücke, aber sie war so zauberkundig und ein so groszes Ungetüm in ihrer Natur, dasz die Stücke wieder zusammen liefen, als ob sie heil wäre. Dies deuchte Thidrek ein groszes Wunder, und er hieb nun ein andermal auf ihren Bauch, aber es ergieng auf dieselbe Weise wie zuvor. Und da sprach Hildibrand: `Tritt mit deinen Füszen zwischen ihr Haupt- und Fuszstück, und so wirst du dieses Ungetüm umbringen.' Und nun hieb Thidrek sie zum drittenmal in zwei Stücke, und trat darauf mit seinen Fuß zwischen die Stücke, und da war das untere Stück todt, aber das Hauptstück sprach: `Möchte doch Grim ebenso Thidrek überwältigt haben, wie ich Hildibrand, so erhielten wir den Sieg!' Und da fiel jedes Stück seines Weges. Und nun sprang Hildibrand auf und sprach: `Fürwahr, du hast mir jetzt wie öfters grosze Hilfe geleistet, was Gott dir lohne!'"
6. Hildigrim (C.17)
"Dann nahmen sie Gold und Silber und allerlei Kleinode, so dasz sie nicht glaubten, dasz der Zwerg sie belogen habe. Auch fanden sie da einen Helm, wie sie einen ebenso dicken niemals zuvor gesehen hatten, und von demselben hatte Zwerg Alfrik auch Thidrek gesagt, dasz er Hilde und Grim ein so groszes Kleinod deuchte, dasz die beiden den Helm nach ihren Namen nennen lassen wollten; und er hiesz demnach Hildigrim, und denselben Helm trug Thidrek seitdem lange Zeit und in manche Gefahren. Thidrek und Hildebrand nahmen nun so groszes Gut als ihre Rosse tragen konnten, und verwahrten sorgfältig, was noch zurückblieb. Darnach fuhren sie heim, und durch solche Grosztaten und manche andere ward Thidrek berühmt über alle Lande."
Dieser Erzählung fehlt das Motiv der Brautgewinnung, statt dessen stehen Schätze und, mehr noch, Waffen im Vordergrund. Anders als bei den bisherigen Erzählungen tritt der Held mit einem menschlichen Helfer auf. Der helfende Zwerg ist in Rolle und Namen identisch mit Auberon in Huon und Alberich im Ortnit, die Begegnung findet wie dort im Wald statt. Der Ort der eigentlichen Handlung ist davon entfernt in einem Erdhaus an einer Halde, was auf eine Höhle hinweist, doch weder Ab- noch Aufstieg werden thematisiert. Der Unhold ist (wie im Beowulf) von einer Gefährtin begleitet, und kann nur mit dem eigenen Schwert getötet werden. Er ist allerdings nicht schlafend. Wie im Beowulf wird zunächst der Unhold getötet, dann seine Gefährtin. Beide sind von dämonischer Kraft, aber menschengestaltig.
Wie Raszmann (S.365) ausführt, hat schon Grimm hierfür Parallelen mit dem Nibelungenhort (siehe unten) erkannt, neben der Gestalt Alberichs vor allem in der Rolle des Helms, den er mit dem Oegnishelm der nordischen Sage vergleicht. Jedoch handelt es sich um eine sekundäre Übernahme des Kompilators der Thidrekssaga, denn die Episode kennen auch die deutschen Quellen (aus Raszmann S.266f):
1. Ecken Ausfahrt
Dietrich "schlug ... Frau Hilte und Grin todt, um eine Brünne, die er nahm ... wäre Grin erwacht, er wäre nie von dannen gekommen". "[S]ein Weib ... drückte ihn also sehr, doch half ihm Meister Hiltebrant, dasz der hehre Degen den Mann und auch das Weib erschlug auf der grünen Plane" (Laszberg)
"[D]ie Maid ... drückt Hildebrand gar sehr, da half dem Meister Hildebrand der edele Degen hehr und schlug zu Tode Mann [= Herrn Greym] und Weib auf einem grünen Anger" (Caspar)
"[V]or Tirol steht ein grüner Wald, darin ein grüner Anger, da spürt' er aus dieselbe Maid des Morgens in dem Thaue; ... von ihren Schlägen erwachte Greym: Herr Dietrich erschlug sie beide" (Strauszberg)
"In Ampprian da liegt ein Wald, darin ein schöner Anger, da spürt' er aus Herrn Greims Spur und die Magd in dem Thaue; da litt er Angst und grosze Not wol von der starken Frau; der löbliche Fürst von Berne schlug sie beide zu Tode, und nahm seinen Helm und seine Brünne" (Caspar von der Roen)
2. Sigenot
Hildebrand fragt Dietrich: "Herr, wiszet ihr auch noch den Stein, da ihr dem alten Hiltegrein seine Schwester habt erschlagen". Hildebrand hat "so viel erlitten wol von dem starken Eysengrein (Riesen Grein Str.Hs.) und von seinem bösen Weibe; ... sie zwang mich zwischen ihre Beine ..., ich müste da geblieben sein: das wandet ihr, Herr [Dietrich], allein". "Sie war grosz ohne Maszen", "so ungefüge" und "drückte Hildebrand besonders; ... unter eine Achsel sie ihn zwang, sie drückte ihn also hart, dasz ihm das Blut herausdrang", doch Dietrich "schlug ihr ab das Haupt"
Die Details sind etwas abweichend, aber wohl unvollständig überliefert: Der Schwerterwerb und der helfende Zwerg fehlen, statt einer Höhle findet die Handlung auf einer Lichtung oder an einem Stein statt. Mit Hinblick auf AT301 interessant ist jedoch der Zug, dass Grein geschlafen haben soll, was Dietrich in Ecken Ausfahrt vorgeworfen wird und an Thidreks/Wolfdietrichs Drachenkampf oder Beowulf erinnert. Zumindest in einem Teil der Sigenot-Überlieferung wird Grein explizit Riese genannt.

6. Sigurd in der Thidrekssaga

Obwohl synkretistisch und in ihren Details schwer nach kontinentalen Quellen und nordischen Einflüssen zu trennen, enthält die Thidrekssaga die vollständigste Darstellung des Nibelungenstoffes, weshalb ich sie hier als Grundlage für die Diskussion von Sigurd bzw. Siegfried verwenden möchte.
Im Nibelungenlied besteht dieser aus zwei, etwa parallel gestalteten Teilen, wobei hier nur der erste, die Biographie Siegfrieds im Vordergrund steht, allerdings fehlen hier gerade die detaillierte Darstellung der Hortgewinnung und erste Begegnung mit Brünhild. In den deutschen Quellen findet sich diese erst mit dem späten Lied vom Hürnen Seyfrid, das zwar in seinen Anfängen bis auf das 13.Jh. zurückgeführt wird, sich in seiner Beschreibung von Kriemhild (vom Drachen entführte Jungfrau) und seinen Weglassungen (Kriemhilds Rache) klar von älteren Quellen entfremdet hat. Gerade mit Bezug auf die Sigurdsage wird explizit auf Sagen und Lieder aus (Nord-)Deutschland als Quelle hingewiesen, des weiteren zeigen deutsche Namensformen, die vereinzelt (Sigfroed statt Sigurd) oder systematisch (Grimhild statt Gudrun) anstelle der nordischen stehen deutlich an, dass es sich um Übernahmen handelt. Andererseits sind aber Aspekte der Sage sonst nur nordisch belegt, was entweder auf Lücken in der deutschen Überlieferung oder auf bewusste Einbeziehung nordischer Elemente durch den Kompilator zurückgeführt werden kann.
1. Sigurds Geburt (C.152ff)
Sigmund, König des Tarlungenlandes freit Sisibe, Tochter des Königs Nidung aus Spanien (C.152-154), zieht jedoch bald in den Krieg und lässt das Reich durch die Grafen Hartvin und Hermann verwalten (C.155-156). Hartvin bedrängt Sisibe vergeblich, zeigt sie jedoch bei Sigmund an, der sie ungehört verstößt (C.156-159). Hartvin bringt sie in einen Wald, wo sie ein Kind gebiert und stirbt. Das Kind wird in einem Glasgefäß in den Fluß gestoßen, am Meeresufer gegen eine Klippe gestoßen und von einer Hindin gestillt. Nach 12 Monaten ist er groß wie ein vierjähriges Kind (C.160-162).
2. Mimir der Schmied (C.163ff)
Der Schmied Mimir brennt Kohlen, findet dabei im Wald das Kind, nimmt es an und nennt es Sigfroed (deutsche Namensform, ab C.165 durch die nordische Form Sigurd ersetzt), der Knabe wächst heran (C.164), wird aber zu kräftig, misshandelt im Spiel die Gesellen und taugt nicht zur Arbeit, weil er den Amboß zerschlägt (C.165). Um ihn loszuwerden, schickt Mimir ihn zum Kohlebrennen in den Wald (C.166).
3. Sigurd erschlägt den Drachen (C.166)
Im Wald lebt Mimirs Bruder Regin in Gestalt eines Drachen (cf. C.163), mit dem er verabredet, Sigurd zu töten. Sigurd fällt Bäume und entfacht ein Feuer. Der Wurm naht und wird mit einem brennenden Baum erschlagen. Sigurd wird durch das Drachenblut (bis auf eine Stelle am Rücken) hürnen. (Hier nicht genannt, erwirbt er nach C.359 durch die Tötung des Drachens auch den Nibelungenhort.) Weil er seine Kost verzehrt hat, kocht er den Drachen, verbrennt sich den Daumen, leckt ihn ab und versteht die Sprache der Tiere. Die Vögel im Baum offenbahren Mimirs Plan, an dem er sich nun rächen will.
4. Sigurd erschlägt Mimir (C.167)
Sigurd kommt mit dem Drachenhaupt heim, Mimir bietet Buße durch Helm, Schild und Brünne, die er für Hertnid von Holmgard geschmiedet hat, verspricht ihm den Hengst Grani aus der Stuterei Brynhilds und weist ihm den Weg dorthin. Er gibt ihm das Schwert Gram, mit dem Sigurd ihn erschlägt.
5. Sigurd und Brynhild (C.168)
Sigurd zieht zur Burg Brynhilds, sprengt die Eisentür und erschlägt sieben Wachleute. Brynhild empfängt ihn dessen ungeachtet, und nennt ihm Namen und Abstammung (die er nicht kennt). Er verlangt Grani und fängt ihn selbst, reitet am nächsten Tag weiter und wird Bannermann von König Isung von Bertangaland (C.168). Zuvor jedoch versprechen sich Sigurd und Brynhild die Ehe (C.227).
6. Sigurds Verlobung mit Grimhild (C.169-226)
In der Thidrekssaga werden die Burgunden Niflunge genannt, regiert von König Gunnar (Gunther), seinen Brüdern Gernoz (Gernôt) und Gislher (Giselhêr), seiner Schwester Grimhild (Kriemhild) und seinem Halbbruder Högni (Hagen), der von derselben Mutter stammt, jedoch einen Elb zum Vorfahren hat, der sie in einem Grasgarten in Gestalt ihres Mannes Aldrian geschwängert hat (C.169). Gunnar und Högnis begleiten Thidrek, als dieser Isung und seine Söhne herausfordert, wo sie Sigurd treffen (C.170-225), gemeinsam reisen sie in das Niflungenland, wo Sigurd sich mit Grimhild verlobt. Beim Gastmahl schlägt Sigurd Gunnar Brynhild als Braut vor und sich als Helfer, "weil ich alle Wege dahin weisz" (C.226).
7. Gunnar gewinnt Brynhild (C.227ff)
Gunnar, Högni und Sigurd (sowie Thidrek) fahren zur Burg Brynhilds, die Gunnar wohl empfängt, Sigurd jedoch ablehnend, weil er die Verlobung gebrochen habe. Sigurd entschuldigt sich durch seine Blutsbrüderschaft mit Gunnar, und dass er Gunnar für einen würdigen Ersatz halte, was sie akzeptiert (C.227). Allerdings wurde sie Gunnars in der Hochzeitsnacht überdrüssig und hängt ihn an einen Haken, so dass er die Ehe nicht vollziehen konnte. Erst in der dritten Nacht gelingt dies, jedoch nur dadurch, dass Gunnar Sigurd bittet, mit ihm die Rolle zu tauschen (C.228). Sie bemerkt den Tausch nicht, Sigurd jedoch nahm dabei ihren Ring (C.229). Nach Vollzug der Ehe reiten die Niflungen heim (C.230).
8. Streit der Königinnen (C.342f)
Im Niflungenland herrschen Gunnar, Högni und Sigurd in Reichtum und Eintracht in der Burg Werniza (Worms) (C.342), doch Grimhild ordnet sich Brynhild, der Königin, nicht unter. Als diese Respekt einfordert, beschähmt sie sie damit, dass Sigurd ihr die Jungfräulichkeit genommen habe und beweist es durch den Ring, den er Brynhild nahm und ihr gab (C.343).
9. Tod Sigurds (C.344ff)
Brynhild wirft Gunnar vor, dass diese Schande offenbar geworden ist, und stachelt ihn und Högni zur Rache auf (C.344). Högni sorgt beim Mal durch übermäßig gesalzene Speisen dafür, dass Sigurd am nächsten Tag besonders durstig sein würde (C.345). Nach der gemeinsamen Eberjagd beugt sich Sigurd über einen Bach und wird von Högni von hinten mit einem Spieß erstochen. Gunnar befiehlt, "diesen Wisent" Grimhild zu bringen (C.346-347). In der Burg, weist ihnen Brynhild den Weg zu Grimhilds Schlafgemach, sie brechen die Tür auf und werfen ihn in ihr Bett. Högni behauptet, der Eber habe Sigurd den Tod gebracht, doch Grimhild sagt ihm den Mord auf den Kopf zu (C.348).
10. Grimhilds Rache (C.356ff)
Der Hunnenkönig Attila freit Grimhild, Sigurds Witwe (C.356-358). Nach sieben Jahren überredet sie ihren Mann mit der Aussicht auf Sigurds Schätze, ihre Brüder ins Hunnenland zu laden (C.359), was diese trotz der Warnungen Högnis und prophetischer Träume von Gunnars Mutter Oda annehmen (C.360-362). Mit einem Heer ziehen sie ins Hunnenland (C.363), nahe des Zusammenflusses von Rhein und Donau rastet das Heer, und Meerfrauen prophezeien Högni ihren Untergang (C.364), usw. Attila empfängt die Niflunge freundlich in seiner Hauptstadt Susat (Soest) (C.371-375), doch Grimhild wirbt unter seinen Männern um Verbündete gegen ihre Brüder (C.376,378) und diese sind mißtrauisch und legen die Waffen nicht ab (C.377). Grimhilds und Attilas Sohn Aldrian provoziert Högni, der ihn köpft, woraufhin die Hunnen zu den Waffen greifen (C.379) und Hunnen und Niflunge einander abschlachten (C.380-390). Im finalen Kampf verwundet Thidrek (als Attilas Mann) Högni (den letzten Niflungen) tödlich (C.391), Grimhild prüft den Tod ihrer Brüder, tötet den nur verwundeten Gernoz, und wird darauf von Thidrek, und mit Attilas Billigung, getötet (C.392).
11. Attilas Tod (C.393,423ff)
Auf dem Sterbebett zeugt Högni einen Sohn, den er Aldrian nennt (C.393), und der von Attila aufgezogen wird (C.423). Im Alter von 11 Jahren lockt er Attila mit der Aussicht auf das Gold Sigurds und der Niflungen in einen Berg, in dem er ihn einschließt, so dass er verhungert (C.424-426). Aldrian präsentiert sich Brynhild als Rächer ihrer Brüder und gewinnt das Niflungenland (C.427).

Sigurds Geburt entspricht der Legende der Heiligen Genoveva (14.Jh.) und ist sonst nicht mit Bezug auf Siegfried belegt, daher sehr wahrscheinlich sekundär. Dessen ungeachtet entspricht es AT301 darin, dass Sigurd durch ein Wildtier gestillt wurde. Seiner überdurchschnittlichen Kraft entspricht sein überdurchschnittlicher Hunger (C.166). Obgleich in trügerischer Absicht, hilft der Schmied Mimir Sigurd bei der Hortgewinnung ähnlich wie der Meisterschmied Alfrik dem Thidrek bei der Gewinnung des Hildigrim, indem er ihn an den Ort des Drachen weist. Da dieser nur im Wald, nicht in der Unterwelt liegt, gibt es weder Auf- noch Abstieg, dass Raszmann (S.33) das Bertangaland als Unterwelt identifiziert, ist m.E. rein spekulativ und gründet sich v.a. auf Möllenhoffs Interpretation des Konfliktes des "solaren" Hertnit mit dem "chthonischen" Isung. Vögel weisen Sigurd den Weg zurück. Ähnlich wie bei Thidrek-Wolfdietrich gewinnt Sigurd Waffen und Pferd nach der Tötung des Unholds (vgl. auch Hildigrim: Helm, Huon: Rüstung), ähnlich wie bei Thidrek-Hildigrim erhält er diese von seinem dämonischen Helfer (vgl. Huon: die Rüstung des Riesen gehörte einst Auberon).
Nach dem Drachenkampf unterstützt Mimir Sigurd dadurch, dass er ihm den Weg zu Brynhild und Grani weist. Hier fehlt der aus AT301 zu erwartende Zusammenhang zwischen Unhold und Jungfrau. Wie in AT301 werden Sigurd und Brynhild getrennt, allerdings dadurch, dass Sigurd entschwindet, nicht Brynhild. Ein interessantes Detail ist jedoch, dass Sigurd bei Brynhild Grani erhält, sein wunderhaftes Ross, mit dem er weiterzieht. Eventuell ist hier ein Vergleich mit der Rückkehr des Helden von AT301 durch ein in der Unterwelt gewonnenes Pferd zu ziehen, was dort als Variante neben dem Vogelflug existiert.
Im Gegensatz zur vorherigen Handlung findet alles folgende (bis auf die erneute Begegnung mit Brynhild) in einer historisierend-glaubwürdigen Umgebung statt, mit konkreten geographischen Details (Städte Wernitza/Worms, Susat/Soest, Flüsse Donau und Rhein) und unter Verwendung historischer Vorbilder (Burgundenreich, Hunnenland), insofern liegt zwischen Brynhilds Burg und dem Niflungenhof ein Übergang zwischen mythologischem und erfahrbaren Raum, der dem Übergang in die Anders- oder Unterwelt des Märchens entspricht.
Sigurds Weg zum Burgundenhof in der Thidrekssaga ist durch die Betonung der Rolle Thidreks umgestaltet zugunsten einer kohärenten Rahmenhandlung und dürfte ursprünglich eine bloße Reisebeschreibung gewesen sein. Das bestätigt sich in C.344, als Brynhild sagt, Sigurd sei "wie ein Waller" zu den Niflungen gekommen, d.h. wohl allein und eventuell zu Fuß, praktisch als Landstreicher (so die Definition bei Adelung). Die Beteiligung Thidreks an Gunnars Brautwerbung kennt ebenfalls nur die Thidrekssaga. Högnis übernatürliche Abkunft ähnelt der von Ortnit, steht jedoch in einem völlig anderen Zusammenhang.
Sigurds Verlobung mit Brynhild ist besser bewahrt als im Nibelungenlied (vgl. Raszmann S. 30f), diese Erklärung zu deren Bruch kennt nur die Thidrekssaga. Die Kampfspiele, um Brynhild zu gewinnen, fehlen hier, ihre besondere Kraft wird aber in der Hochzeitsnacht deutlich.
Bemerkenswerter Weise gibt es eine Ringerkennung ähnlich wie im Märchen, jedoch in einem völlig anderen Kontext: Brynhild erkennt zwar auch den Mann, der ihr die Jungfräulichkeit nahm, an ihrem Ring, jedoch an der Hand von dessen Frau und mit gänzlich anderen Konsequenzen.
Dieser Zank der Königinnen und alles Nachfolgende wiederum erinnert jedoch an Begebenheiten, die zum historischen Kern der Nibelungensage gehören: Die Auseinandersetzung der fränkischen Königin Brunichild, die in 598-613 in Burgund residierte, mit Fredegunde, der Konkubine ihres Schwagers Chilperich, deren Aufenthalt bei dessen Halbbruder Guntram I. sowie der Tod von Brunichildis' Gatten Sigibert I. stammen aus dem Rahmen des merowingischen Bruderkriegs (561-613), die wohl jüngste historische Schicht in der Nibelungensage. Dem vernichtenden Sieg des Flavius Aetius und seiner hunnischen Hilfstruppen über das Burgundenreich (436) verdankt die Nibelungensage historische Querbezüge wie die Verbindung mit den Burgunden, die Lokalisierung in Worms und den König Gunnar/Gunther (Gundahar). In der Thidrekssaga nicht bewahrt, aber wohl prägend für die Verbindung von Grimhild und dem Hunnenkönig Attila war wohl der Tod Attilas (453) in seiner Hochzeitsnacht mit der Prinzessin Ildico, deren Name lautlich zu (Kriem-)Hild stimmt.
Die Verschmelzung dieser historischen Komponenten, teilweise begünstigt durch zufällige Namensähnlichkeiten (Gundahar ~ Guntram), wiederkehrende Bezeichner unterschiedlicher politischer Einheiten (Burgundenreich um Worms, Burgund als merowingisches Herrschaftsgebiet an der Rhône), wiederkehrende Ortsbezüge (Worms?) oder Akteure (Hunnen) sind die Grundlage des Nibelungenuntergangs, der oben nur kurz angerissen ist, während die damit verbundene Sigurdsage keine klar erkennbare historische Basis besitzt und daher im Rahmen der Suche nach märchenhaften oder mythologischen Motiven hier von größerer Bedeutung ist.
Attilas Tod nach der Thidrekssaga widerspricht dem historischen Vorbild, obwohl sein Überleben auch im Nibelungenlied vermeldet wird. Diese spezifische Überlieferung besitzt keine Parallelen außerhalb der Thidrekssaga, wobei als Detail jedoch interessant ist, dass der Niflungenschatz in einer Höhle in einem Berg gelagert ist, eventuell deutet das darauf hin, dass auch der ursprüngliche Drachenhort in einer Höhle gelagert war, über dessen Auffindung durch Sigurd die Thidrekssaga nur indirekte Kunde gibt.

7. Siegfried im Nibelungenlied

Das Nibelungenlied entstand in seiner bekannten Fassung wohl Anfang des 13.Jh. im süddeutschen Raum. Es besteht aus 39 Aventiuren (im folgenden Av. abgekürzt), von denen 20 Wirken und Tod Siegfrieds (Sigurds) in Worms behandeln und 19 den Untergang der Burgunden am Hofe Etzels (Attilas). Die folgende Zusammenfassung ist verkürzt und chronologisch umstrukturiert nach der Wikipedia, die Zwischengliederung ist an die Thidrekssaga oben angeschlossen.
1. Siegfrieds Geburt und Jugend
Siegfried, der Sohn König Siegmunds und Königin Sieglindes von Xanten am Niederrhein hat wunderbare Anlagen, wird von weisen Erziehern zu einem vorbildlichen zukünftigen Herrscher erzogen und als kampfgewandter und mutiger junger Mann beschrieben, der oft seine Kräfte erprobt. Anlässlich der Vergabe der Lehen durch Siegfried an die Lehnsleute der nächsten Generation auf Siegfrieds Schwertleite äußern die mächtigen Herren, dass sie eine Herrschaftsübernahme durch Siegfried gerne sehen würden. Er tritt jedoch freiwillig hinter seine Eltern zurück (Av.2).
3-4. Siegfried gewinnt den Hort
Siegfried erwarb den Hort des Königs Nibelung, indem er dessen Söhne erschlug. Diese waren bei der Erbteilung in Streit geraten und hatten Siegfried gebeten, ihnen den Hort zu teilen. Aber auch mit seiner Teilung waren sie nicht einverstanden und gingen zornig auf ihn los. Vorausschauend hatte Siegfried im Voraus als Lohn für die Erbteilung Balmung, das Schwert des Nibelung, verlangt, und erschlug damit sie und die Riesen in ihrem Gefolge. Der Zwerg Alberich bewachte den Hort in einer unsichtbar machenden Tarnkappe. Siegfried konnte ihm die Tarnkappe abnehmen und ihn fesseln. Alberich musste fortan den Hort für Siegfried bewachen. Außerdem erschlug Siegfried einmal einen Drachen, badete in dessen Blut und besitzt seither eine unverletzliche Hornhaut (Av.3), eine Stelle am Rücken, die beim Bad im Drachenblut von einem Lindenblatt bedeckt wurde, blieb jedoch verletzbar (Av.15).
5. Siegfried und Brünhild
Siegfried war schon an Brünhilds Hof und kennt sie persönlich. Als er später mit Gunther zurückkehrt, erwartet Brünhild zunächst, dass Siegfried um sie werben wolle (Av. 6-8).
6. Siegfrieds begegnet Kriemhild
Am Königshof in Worms lebt Kriemhild mit ihren drei Brüdern Gunther, Gernot und Giselher, die ihre Vormunde sind, und ihrer Mutter Ute. Ihr Vater ist bereits verstorben. Hagen von Tronje, ein Verwandter der Könige, ist ihr wichtigster Ratgeber. Kriemhild träumt, dass sie einen Falken aufzieht, den zwei Adler zerfleischen. Ihre Mutter deutet den Traum: der Falke steht für einen edlen Mann, und Kriemhild läuft Gefahr, ihn zu verlieren, wenn Gott ihn nicht beschützt. Kriemhild weist den Gedanken an Mann und Liebe von sich (Av.1).
Siegfried will um Kriemhild werben, die alle Werber abweist. Seine Eltern sind dagegen, doch Siegfried setzt seinen Willen durch und bricht mit 12 Gefährten nach Worms auf. Hagen ahnt, dass es sich um Siegfried handelt, und erzählt dessen Geschichte. Siegfried fordert Gunther zum Zweikampf, doch Gernot verhindert das und bittet Siegfried als Gast zu bleiben (Av.3). Als Sachsen und Dänen den Krieg erklären, besiegt Siegfried die feindlichen Könige im Zweikampf. Man versucht beim Siegesfest, ihn mit Kriemhild zu ködern, um weiterhin seiner Hilfe sicher zu sein (Av.5-6).
7. Gunther gewinnt Brünhild
Gunther will die Hand von Brünhild, Königin von Island. Siegfried war schon an Brünhilds Hof und kennt sie persönlich, rät aber ab: Brünhild besitzt, so lange sie Jungfrau bleibt, übernatürliche, magische Kräfte und ist nicht bereit, sich einem Mann hinzugeben, der sie nicht in drei Kampfspielen besiegen kann: Steinwurf, Weitsprung und Speerwurf. Gunther könnte das nie leisten, doch Hagen rät, Siegfried möge Gunther zu ihr verhelfen. Siegfried verspricht es, wenn Gunther ihm dafür Kriemhild zur Frau gibt. Gunther, Siegfried, Hagen und Dankwart segeln zu viert in einem kleinen Schifflein nach Island.
Brünhild erwartet zunächst, dass Siegfried um sie werben wolle. Er gibt sich jedoch als Gefolgsmann Gunthers aus und leistet den Stratordienst: er führt Gunthers Pferd vor aller Augen am Zügel. Daraufhin akzeptiert Brünhild, dass Gunther um sie werben will, und wird zu ihrer Überraschung besiegt: Durch die Tarnkappe unsichtbar, besiegt Siegfried Brünhild so, dass sie glaubt, Gunther habe den Sieg mit eigener Kraft errungen. Brünhild lässt ihre Gefolgsleute herbeiholen, um die Herrschaft an Gunther zu übergeben. Siegfried fährt, durch die Tarnkappe unsichtbar, mit dem Schifflein ins Nibelungenland und holt tausend Nibelungen herbei – nachdem er den Torwächter und seinen Kämmerer Alberich inkognito auf ihre Treue überprüft und dabei verprügelt hat (Av.6-8). Gunther schickt Siegfried als Boten nach Worms, um die Rückkehr vorzubereiten (Av.9), wo die Doppelhochzeit stattfindet (Av.10).
Für Kriemhilds Vermählung mit dem vermeintlichen Gefolgsmann Siegfried verlangt Brünhild von Gunther Aufklärung, doch er verweigert ihr Auskunft. Sie verweigert den Vollzug der Ehe, fesselt ihn in der Hochzeitsnacht mit ihrem Gürtel und hängt ihn an einen Nagel an der Wand. Erst am Morgen nimmt sie ihn ab. Wieder muss Siegfried helfen: In der nächsten Nacht schleicht er, durch die Tarnkappe unsichtbar, in Gunthers Schlafzimmer und ringt Brünhild im Ehebett nieder, bis sie sich freiwillig ergibt. Dann tauschen Gunther und Siegfried die Plätze und Gunther vollzieht die Ehe. Durch den Verlust der Jungfräulichkeit verliert sie ihre magischen Kräfte. Während des Kampfes entwendet Siegfried heimlich Brünhilds Ring und Gürtel und schenkt sie später seiner Frau Kriemhild als Beweisstücke, wo er in der Nacht nach der Hochzeitsnacht gewesen war. (Av.10).
Rückkehr nach Niderland
Kriemhild wünscht, dass ihre Brüder das Erbe teilen. Siegfried ist dagegen, weil er reich genug ist, sie nimmt nur einen Anteil an den burgundischen Gefolgsleuten, um im neuen Land Vertraute um sich zu haben. Kriemhild wird in Niderland prächtig empfangen; Siegmund übergibt die Herrschaft vollständig an Siegfried. Nach neun Jahren gebiert Kriemhild einen Sohn, den man Gunther nennt; etwa zur selben Zeit schenkt Brünhild ebenfalls einem Sohn das Leben; man nennt ihn Siegfried. Siegfried herrscht außer über Niderland auch über Nibelungenland und genießt vor allem die unvorstellbaren Reichtümer des Nibelungenhorts (Av.11). Nach mehreren Jahren verlangt Brünhild vom König, Siegfried zum Hofdienst zu befehlen. Gunther lädt Siegfried und Kriemhild zu einem Fest nach Worms. Siegfried, Kriemhild und Siegmund reisen nach Worms; das Kind wird zurückgelassen. In Worms werden Siegfried und Kriemhild wieder gleichrangig mit Gunther und Brünhild behandelt (Av.12-13).
8. Streit der Königinnen
Für Kriemhilds Vermählung mit dem vermeintlichen Gefolgsmann Siegfried verlangt Brünhild bereits während der Hochzeit von Gunther Aufklärung, doch er verweigert ihr Auskunft (Av.10). Bei einem Turnier geraten die Königinnen in einen Streit über den Rang ihrer Männer. Beide wollen den Streit öffentlich austragen, um die Rangfrage verbindlich zu entscheiden: Diejenige der beiden, die bei der Abendmesse zuerst das Münster betreten darf, solle als ranghöher gelten. Kriemhild bereitet sich für diesen Auftritt entsprechend vor und kleidet sich und ihr Gefolge prächtig ein. Als Brünhild Kriemhild vor dem Betreten des Münsters befiehlt, stehenzubleiben, und sie als leibeigene Dienstmagd beschimpft, nennt Kriemhild sie die Kebse eines leibeigenen Mannes, weil Siegfried, nicht Gunther, Brünhild die Jungfräulichkeit genommen habe. Brünhild weint; Kriemhild betritt als erste das Münster, nach der Messe weist Kriemhild Brünhilds Ring und Gürtel vor (Av.14).
9. Tod Siegfrieds
Hagen will sich für die verletzte Ehre seiner gedemütigten Herrin rächen, er schlägt die Ermordung Siegfrieds vor, denn er hält Siegfried für eine Bedrohung des Hofes von Worms und überzeugt Gunther davon, dass es auch ihm, Gunther, nütze, wenn Siegfried den Tod fände: man könne dann die Reichtümer Siegfrieds an sich reißen (Av.14).
Falsche Boten verkündigen eine Erneuerung des Sachsenkrieges. Hagen entlockt Kriemhild das Geheimnis der verletzbaren Stelle von Siegfrieds Rücken damit, im Krieg diese Stelle beschützen zu wollen. Sie solle diese Stelle auf Siegfrieds Kleidung durch ein Kreuzchen markieren. Der erlogene Kriegszug wird durch neue fingierte Boten, abgesagt werden. Stattdessen lässt Gunther eine Jagd ansetzen (Av.15).
Als Siegfried sich von Kriemhild verabschiedet, versucht sie, durch Erzählung warnender Träume Siegfried zu überreden, nicht an der Jagd teilzunehmen, wagt aber nicht, ihm ihre unkluge Handlung zu gestehen. Siegfried nimmt die Warnung nicht ernst und nimmt an der Jagd teil. Hagen lässt den Wein an einen falschen Ort senden; als Siegfried dürstet, schlägt er einen Wettlauf zu einer Quelle im Wald vor. Siegfried beugt sich über die Quelle, nun kann Hagen Siegfried von hinten mit dessen Speer ermorden (Av.16).
Die Mörder kehren nachts zurück und Hagen lässt Siegfrieds Leichnam vor Kriemhilds Kammertür werfen. Sie glaubt sicher zu wissen, wer der Mörder war, denn bei der 'Bahrprobe' beginnen Siegfrieds Wunden zu bluten, als Hagen herantritt. Gunther leistet aber einen Reinigungseid für Hagen, dass dieser unschuldig sei und Siegfried von Räubern erschlagen wurde (Av.17-19). Kriemhild bleibt in Worms und benutzt den Nibelungenhort, um fremde Recken an sich zu binden, Hagen versenkt ihn daher im Rhein, die drei Könige dulden sein Vorgehen (Av.17-19).
10. Kriemhilds Rache
Der zweite Teil des Nibelungenliedes ist der Darstellung der Thidrekssaga ähnlich (Av.20-38). Auch hier weilt Dietrich (Thidrek) von Bern, aus seinem ererbten Königreich in Oberitalien vertrieben, mit seinen Getreuen im Exil am Hof Etzels (Attila), er empfindet Sympathie für die Burgunden, bleibt aber Etzel und Kriemhild treu. In Av.39 besiegt er Gunther und Hagen und überantwortet sie gefesselt Kriemhild. Kriemhild verlangt den Schatz, Hagen erklärt ihr jedoch, das Versteck nicht preiszugeben, solange einer seiner Herren noch lebt. Darauf lässt Kriemhild Gunther den Kopf abschlagen, worauf er erklärt, nun wüssten nur Gott und er den Aufenthalt des Hortes. Hagen hatte das Schwert Siegfrieds, das er sich nach dem Mord angeeignet hatte, an den Etzelshof mitgenommen. Dieses ergreift nun Kriemhild und schlägt Hagen eigenhändig den Kopf ab. Die Männer sind entsetzt, auch Etzel, dass der größte Held durch die Hand einer Frau starb. Zur Rache dafür erschlägt Hildebrand Kriemhild; weil sie als Frau wagte, einen Helden zu töten.
Siegfrieds Jugend ist hier völlig abweichend von der Darstellung in der Thidrekssaga. Sein Vater Siegmund entspricht dem dortigen Sigmund, aber Siegfried wächst nicht als (Halb-)Waise oder gar Schmiedegeselle auf, was im Nibelungenlied aber Zugeständnis an die Wertvorstellungen des Publikums sein kann, denn diesen Zug hat Hürnen Seyfrid (s.u.) bewahrt.
Die Hortgewinnung ist nur in indirekter Rede und womöglich antichronologisch erzählt, es bleibt z.B. unklar, ob der Drache mit dem Hort in Verbindung steht. Noch fragmentarischer ist die Brünhild-Episode, wir erfahren lediglich, dass Siegfried Brünhild bereits begegnet ist und sie ihn als Freier erwartet, was gut als rhetorisches Mittel zur moralischen Aufwertung Siegfrieds (im Vergleich zur Thidrekssaga) erklärt werden kann.
Klarer als in der Thidrekssaga ist die Motivation Siegfrieds dargestellt: Er gewinnt Brünhild für Gunther, um Kriemhild freien zu können. Deutlicher als dort wird der kämpferische Charakter Kriemhilds, indem sie bei Kampfspielen besiegt wird. Gunthers Hochzeitsnacht ist äquivalent, wenn auch weniger derb, gezeichnet, auch hier nimmt Siegfried Brünhild Ring (und Gürtel). Der Streit der Königinnen ist ebenfalls ähnlich, beginnt hier jedoch schon vor Vollzug der Ehe. Die Rückkehr nach Niderland fehlt in der Thidrekssaga und ist sicher ein sekundäres Mittel, den Rang Siegfrieds als unabhängigen König zu unterstreichen, denn die dadurch notwendig gewordene Verlagerung des Schatzes von Xanten nach Worms wirkt unorganisch. Auch hier leitet eine Ringerkennung den Tod Siegfrieds ein, der bis in Details mit der Thidrekssaga übereinstimmt. Ähnlich gilt das für Kriemhilds Rache. Etzels Tod fehlt.

8. Sigurd in nordischen Quellen

Unter nordischen Quellen seien hier vor allem die Völsungensaga und die eddischen Lieder verstanden. Die Thidrekssaga mag zwar norwegischen Ursprungs sein und ebenfalls nordische Elemente bewahren, beruft sich aber explizit auf deutsche Quellen. Die faröischen und dänischen Lieder bewahren wahrscheinlich ebenfalls alte Überlieferungselemente, sind jedoch etwas später und wahrscheinlich nicht unabhängig von Völsungen- und Thidrekssaga entstanden, so dass ich sie hier nicht betrachten werde.
Die Völsungensaga ist eine isländische Vorzeitsaga aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, und wird z.T. als Prosaparaphrase der in der Lieder-Edda enthaltenen Heldenlieder gesehen, sie kennt insbesondere Inhalte der sogenannten „Lieder der Lücke“ der Lieder-Edda, und bietet daher ein kohärenteres Bild als die eddischen Sigurdlieder. In der Darstellung und Kapitelgliederung folge ich hier einer Internetquelle, die Gliederung in Zwischenüberschriften ist an die Thidrekssaga angelehnt.
1. Sigurds Herkunft und Geburt
Die Völsungensaga beschreibt zunächst die Ahnen Sigmunds, Sigurds Vater, Sohn von Völsung und Nachkomme Odins, sowie deren Taten (Kap.1-10). Der alte Sigmund, König der Völsungen, freit Eylimis Tochter Hjördis, doch Lygni neidet ihm dies und greift ihn an, wobei Sigmund und Eylimi fallen (Kap.11). Hjördis findet ihn auf dem Schlachtfeld, er heißt sie, die Bruchstücke seines Schwertes zu bewahren, und sie flieht in der Kleidung einer Magd. Alf, Sohn des Königs Hjalpreks von Dänemark, erkennt sie, bringt sie zu Hjalpreks Hof (Kap.12), wo sie Sigurd gebiert und Alf heiratet (Kap.13).
2. Regin der Schmied
Hjalprek bestimmt Regin zu Sigurds Pflegevater (Kap.13), Sohn von Hreidmar und begnadeter Schmied (Kap.14). Als er herangewachsen ist, weist Regin Sigurd, ein Pferd vom König zu verlangen. Mit der Hilfe Odins gewinnt Sigurd Grani, einen Nachkommen Sleipnirs. Regin weist Sigurd sodann den Weg zu einem Hort auf der Gnistaheide, bewacht vom Lindwurm Fafnir (Kap.13): Otr, Fafnir und Regin waren die Söhne Hreidmars. Als Otr in Gestalt eines Otters am Wasserfall Andvarafors fischte, kamen Odin, Loki und Hönir des Wegs, Loki tötete Otr und zog ihm den Balg ab. Hreidmar verlangte als Buße, den Balg mit Gold zu füllen und dazu fingen die Asen den Zwerg Andvari, der dort in Gestalt eines Hechtes lebte, und nahmen dessen Gold zur Buße, doch der Zwerg verfluchte den Schatz. Fafnir erschlug Hreidmar, raffte den Hort an sich, wurde bösartig und verwandelte sich in einen Wurm. Sigurd verspricht Regin sein Erbe zu verschaffen, wenn er ihm ein Schwert schmiede (Kap.14).
Sigurd probte das Schwert Regins am Amboß, doch das Schwert zersprang, und ebenso das zweite. Für das dritte gab er Regin die Bruchstücke von Sigmunds Schwert, und dieser schmiedete Gram, mit dem Sigurd bei der Schwertprobe den Amboß zerschlug (Kap.15). Bevor er sich Fafnir entgegenstellt, will Sigurd jedoch seinen Vater rächen, lässt sich sein Schicksal prophezeihen (Kap.16) und erschlägt Lyngvi (Kap.17).
3. Sigurd erschlägt den Drachen
Sigurd und Regin finden der Pfad Fafnirs an eine Quelle an einer Klippe. Regin weist Sigurd eine Grube auszuheben, aus der er Fafnir an seinem verletzbaren Bauch töten könne. Ein alter Mann mit langem Bart (die Erscheinung Odins in Kap.13) heißt ihn jedoch, mehrere Gruben anzulegen, um nicht im Blut zu ertrinken. Sigurd sticht Fafnir ab, dieser warnt ihn vor dem Schatz und vor Regin (Kap.18).
4. Sigurd erschlägt Regin
Regin trinkt Fafnirs Blut und heißt Sigurd, Fafnirs Herz zu braten und ihm zu bringen. Sigurd verbrennt sich den Finger, leckt ihn ab und versteht die Sprache der Vögel (Kap.19), diese warnen ihn vor Regin, der seinen Bruder rächen müsse, und weisen ihm den weiteren Weg, d.h., zum Lager Fafnirs hinaufzureiten, das Gold zu nehmen, das dort liegt, und sodann hinauf nach Hindarfjall zu reiten, wo Brynhild schläft und er große Weisheit lernen würde. Er schlägt Regin den Kopf ab, isst einen Teil des Herzens von Fafnir und verwahrt den Rest, reitet zu seiner Höhle, findet dort Hort, das Schwert Hrotti, den Schreckenshelm und eine Goldbrünne und reitet zu Brynhild (Kap.20).
5. Sigurd und Brynhild
Sigurd reitet hinauf zum Hindarfjall, auf dem Berge sieht er vor sich ein großes Licht, wie brennendes Feuer. Als er aber herankommt, steht vor ihm eine Schildburg, und über ihr flattert eine Fahne. Sigurd geht durch den Schildzaun, findet eine schlafende Walküre in Rüstung. Mit Gram befreit er sie, sie erwacht, begrüßt ihn als Drachentöter und mit seinem Namen und erzählt, wie sie von Odin mit einem Schlafdorn betäubt worden sei (Kap.21), sie erteilt ihm weise Ratschläge und sie versprechen einander die Ehe (Kap.22). Brynhild ist Königstochter und Walküre, Tochter von Budli, und Schwester von Atli (Kap.26).
Sigurd reitet weiter, erreicht den Hof von Heimir, Mann der Schwester Brynhilds, deren Sohn Alsvinn ihn zum Verbleiben einlädt (Kap.24). Sigurd sieht Brynhild, heimgekehrt zu Heimir, begehrt sie und trotz ihrer Warnung, er werde Gudrun, Gjukis Tochter heiraten, versprechen sie sich erneut die Ehe (Kap.25).
6. Sigurd heiratet Gudrun
Gjuki war König eines Reiches am Rhein. Er hatte eine zauberkundige Gemahlin, Grimhild, drei Söhne, Gunnar, Högni und Gutthorm, und eine Tochter namens Gudrun. Gudrun hatte beunruhigende Träume, und reiste zu Brynhild, um diese deuten zu lassen (Kap.26). Gudrun träumt "daß wir mehrere zusammen aus der Kammer gingen und sahen einen stattlichen Hirsch, der überragte weit andere Tiere; sein Fell war von Golde – wir wollten alle das Tier fangen, aber ich allein erreichte es; das Tier dünkte mich besser als alle andern Dinge – da erschossest du das Tier mir vor dem Schoß, und das war mir ein so großer Harm, daß ich ihn kaum zu ertragen vermochte. Darauf gabst du mir einen jungen Wolf, der bespritzte mich mit dem Blute meiner Brüder." Brynhild prophezeit daraus den "zu euch wird Sigurd kommen, den ich mir zum Manne erkor; Grimhild gibt ihm truggemischten Met der uns alle in großen Streit bringt. Du wirst ihn besitzen, aber schnell ihn verlieren. Du wirst König Atli zum Gemahl haben – deine Brüder wirst du verlieren, und dann wirst du Atli erschlagen." Gudrun kehrt daraufhin zurück (Kap.27).
Sigurd erreicht die Halle Gjukis und wird freundlich aufgenommen. Seine Gattin Grimhild sah, daß keiner sich mit ihm vergleichen konnte, sah auch, welche Stütze an ihm war, und daß er übergroße Schätze hatte, viel mehr, als daß man ein andres Beispiel dafür gewußt hätte, doch sie gewahrte auch, wie sehr Sigurd Brynhild liebt, und wie oft er sie erwähnt. Damit er sich hier festsetzt und König Gjukis Tochter zur Frau nimmt, verabreicht sie ihm einen Zaubertrank, durch den er Brynhild vergißt. Gjuki bietet ihm Gudrun als Ehefrau an, Sigurd schließt Blutsbrüderschaft mit Gunnar und heiratet Gudrun. Er gibt Gudrun von Fafnirs Herz, seitdem war sie weit grimmiger als zuvor, und auch weiser. Ihr Sohn hieß Sigmund (Kap.28).
7. Gunnar gewinnt Brynhild
Grimhild beredet Gunnar, um Brynhild zu werben und sich von Sigurd begleiten zu lassen (Kap.28). Gunnar, Högni und Sigurd reiten zu Budli um dessen Segen, dann nach Hlymdalir zu Brynhilds Pflegevater Heimir, der ebenfalls seinen Segen gibt, wobei sie jedoch nur den zum Manne nähme, der das Feuer um ihren Saal durchreiten könne. Gunnar gelingt dies nicht, Grani mag ihn nicht tragen, doch Sigurd durchreitet die Flammen in Gestalt Gunnars und stellt sich ihr als Gunnar vor. Sie verloben sich und teilen das Lager, doch Sigurd legt Grani zwischen sie und tauschte den Ring Andvaranaut, den er ihr zuvor gegeben hatte, mit einem anderen aus Fafnirs Schatz. Brynhild, die glaubte, nur Sigurd könne die Waberlohe überwinden, läßt die mit Sigurd gemeinsame Tochter Aslaug bei Heimir zurück und begleitet Gunnar (Kap.29).
8. Streit der Königinnen
An einem Tage baden die Königinnen zusammen im Fluss. Brynhild und Gudrun streiten um den Rang ihrer Männer, doch Gudrun antwortet voll Zorn: „Du wärest weiser, wenn du schwiegest, als wenn du meinen Mann lästertest. ... dir ziemt es nicht, ihn zu lästern, denn er ist dein erster Gatte: er erschlug Fafnir und ritt durch die Waberlohe, wo du den König Gunnars zu sehen glaubtest; er lag bei dir und nahm dir von der Hand den Ring Andvaranaut – hier kannst du ihn erkennen!“ (Kap.30) Brynhild schmäht Gunnar und wird von Högni in Ketten gelegt (Kap.31), Sigurd spricht mit ihr und der Betrug an ihm wird offenbar, doch sie will nicht leben, sagt Brynhild Gunnar, „denn Sigurd hat mich betrogen und nicht minder dich, da du ihn in mein Bett in einer Halle steigen ließest. Als Weib zweier Männer will ich nicht weiterleben, eines von uns dreien muß sterben, Sigurd oder du oder ich – denn er hat das alles Gudrun erzählt, aber sie wirft es mir vor.“ (Kap.32).
9. Sigurds Tod
Brynhild droht Gunnar: „Du sollst Macht und Hort verlieren, dein Leben und mich, und ich will zurückkehren zu meinen Verwandten und betrübt dort sitzen, wenn du Sigurd nicht erschlägst und seinen Sohn – zieh nicht den jungen Wolf auf!“ Gunnar rief seinen Bruder Högni zu sich und sprach: „Wir wollen unsern Bruder Gutthorm aufreizen, er ist jung und unerfahren und steht außerhalb aller Eide.“ Er hieß dann Brynhild aufstehen und fröhlich sein. Sie stand auf, sage jedoch, daß Gunnar nicht eher mit ihr in dasselbe Bett kommen sollte, als bis diese Tat ausgeführt wäre.
Gutthorm ging am nächsten Morgen hinein zu Sigurd, als er noch in seinem Bett ruhte. ... Und zum dritten Male ging er hinein, da war Sigurd eingeschlafen. Gutthorm zückte das Schwert und stieß es in Sigurd, so daß die Schwertspitze im Polster unter ihm stecken blieb. Sigurd erwachte von der Wunde, Gutthorm aber ging hinaus zur Tür: da nahm Sigurd das Schwert und warf es nach ihm; es traf ihn im Rücken und schnitt ihn mitten durch – nach der einen Seite fiel das Fußstück, nach der andern aber fielen das Haupt und die Hände zurück in die Kammer. Gudrun war in Sigurds Armen eingeschlafen, aber sie erwachte mit unsagbarem Harme, da sie in seinem Blute schwamm (Kap.32). Brynhild bittet Gunnar um einen Scheiterhaufen für Sigurd, den sie auch besteigt (Kap.33).
10. Untergang der Gjukunge
Vor ihrem Tod prophezeit Brynhild den Untergang der Gjukunge: "Jetzt will ich dir kurz sagen, wie es später kommen wird: bald werdet ihr euch mit Gudrun versöhnen unter Beihilfe Grimhilds der Zauberkundigen. Eine Tochter Gudruns und Sigurds wird Svanhild heißen, die als die schönste aller Frauen wird geboren werden, Dann wird Gudrun gegen ihren Willen an Atli gegeben werden. Du aber wirst Oddrun zur Frau haben wollen, doch Atli wird es verbieten: da werdet ihr heimlich zusammenkommen, und sie wird dich lieben. Atli wird dich verraten und in den Schlangenzwinger setzen. Darauf wird Atli selbst mit seinen Söhnen erschlagen werden – Gudrun wird sie töten. Dann werden mächtige Wogen Gudrun nach Jonakrs Burg tragen, da wird sie treffliche Söhne gebären. Svanhild wird aus dem Lande gesendet und König Jörmunrek vermählt werden – aber Bikkis treuloser Rat wird sie verderben: damit ist euer ganzes Geschlecht dahin, und Gudruns Harm ist um so größer." (Kap.32)
Ähnlich zur Thidrekssaga besitzt Sigmund mit Lygni einen Mitbewerber um die Gunst seiner Frau, und Sigurd ist Halbwaise, doch stirbt nicht sie, sondern er, so dass hier jenseits des Vatersnamens keine Parallele zu ziehen ist. Der Schmied Regin entspricht ganz dem Mimir der Thidrekssaga, Fafnir entspricht den Regin der Thidrekssaga, die Vorgeschichte des Hortes erfahren wir aber nur hier. Name von Schwert und Pferd entsprechen der Thidrekssaga, das Zerschlagen des Amboß findet ebenso eine Entsprechung, das Verbrennen des Fingers, die Vogelsprache und der Betrug Regin/Mimir an seinem Schützling. Wie in der Thidrekssaga tötet Sigurd den Regin, um der Blutrache zu entgehen, und wie in der Hildigrim-Episode (und Ortnit) findet er im Hort Waffen, Helm und Brünne. Sein Pferd Grani erwirbt er wie dort auf Anraten seines Ziehvaters, jedoch vor dem Drachenkampf, nicht erst von Brynhild. Das ist auch im Gesamtkontext plausibler, weshalb diese Variante wohl sekundär ist, da eine Korrektur hin zu einem weniger plausiblen Szenario wenig wahrscheinlich ist.
Die Begegnung mit Brynhild ist ähnlich zur Darstellung in der Thidrekssaga, Sigurds gewaltsames Eindringen dort mag mit dem Überwinden der Waberlohe bzw. der Schildburg und der Öffnung ihrer Rüstung verglichen werden. Kap.25 ist wohl eine Doublette von Kap.22 und vielleicht ursprünglich eine alternative Darstellung der Begegnung mit Brynhild, denn überraschenderweise muss ihm erst Alsvinn die Identität von Brynhild offenbahren, die er doch gerade erst verlassen hat.
Heimir tritt auch in der Thidrekssaga auf (C.18), wo er Sohn des Studas, Stallmeister von Brynhild und Begleiter Thidreks ist. Sein eigentlicher Name sei ebenfalls Studas gewesen, er sei jedoch nach einem (Lind-)Wurm umbenannt worden, der so fürchterlich gewesen sei, dass alle andere Würmer ihn flohen. Falls dies auf Fafnir anspielt, würde hier zum ersten Mal in der Siegfriedsdichtung ein Drachen in -- allerdings indirekten -- Zusammenhang mit Brynhild gebracht, jedoch deutet Grimm (vgl. Raszmann S.370) Heimir als ursprünglichen Riesen. Vor diesem Hintergrund mag seine Rolle als Vormund Brynhilds in Verbindung mit seiner Riesen- oder Drachennatur darauf hinweisen, dass Heimir ursprünglich Brynhild in seiner Gewalt hatte, worin er dem Unhold von AT301 entspräche. Heimirs Rolle in Thidreks Jugend ist ähnlich der ersten Begegnung Brynhilds mit Sigurd in der Thidrekssaga, denn unmittelbar nach der Gewinnung des Hildigrim konfrontiert Heimir Thidrek, wird überwunden, in sein Gefolge aufgenommen und bringt ihm seinen Hengst Falke.
Gjukis Namen hat die Thidrekssaga verloren, doch Grimhild erscheint als Name der Mutter Gunnars, während die Grimhild der Thidrekssaga Gudrun heißt. Gudruns Traum entspricht den Träumen Kriemhilds, allerdings fehlt dort Brynhild als Traumdeuterin (und ist auch schwerlich mit der Heimir- und der Burgepisode in Einklang zu bringen). Wie die Thidrekssaga kennt die Völsungensaga die Blutsbrüderschaft mit Gunnar, doch nur die Völsungensaga weiß vom Vergessenstrank, der hier Sigurds Eidbruch kaschiert. Wieder tauschen Sigurd und Gunnar Rolle und Gestalt, wieder nimmt Sigurd Brynhild einen Ring und das Motiv der Ringerkennung an der Hand der Frau des Helden wiederholt sich.
Die Darstellung von Sigurds Tod ist abweichend, doch auch hier findet die erwachende Gudrun den sterbenden Helden in ihrem Bett. An die Jagd erinnern seine letzten Worte: "Wenn ich (...) mit meinen Waffen auf meine Füße stellen könnte, dann sollten (...) all die Brüder erschlagen werden; noch schwieriger sollte es ihnen werden mich zu erschlagen als den größten Wisent oder Wildeber." Der Fall der Gjukunge, hier nur in Brynhilds prophetischem Vorausblick zitiert, weicht vom Nibelungenuntergang etwas ab, zumal Brynhild hier Atlis (Attilas) Schwester ist, doch in Annäherung an die historischen Fakten stribt Attila von der Hand seiner Frau (Gudrun).
Hier ist als einem der wenigen Texte vom Eintritt in die Anderswelt zu sprechen, falls man den Ritt durch die Waberlohe so interpretieren mag. Einen Auf- oder Abstieg gibt es jedoch nicht. Ebensowenig wie in den bisherigen Sigurd-Texten findet sich ein Bezug zwischen Drachentötung und Jungfrauengewinn.

9. Hürnen Seyfrid

Der Hürnen Seyfrid ist eine frühneuhochdeutsche Versdichtung des frühen 16.Jh., die -- wahrscheinlich auf Basis älterer Vorstufen -- die Geschichte Siegfrieds von dessen Jugend bis zu seinem Tod durch Gunther und seine Brüder beschreibt. Panzer (1912) sah hierin eine der ursprünglichsten, da volkstümlichsten, Formen der Siegfriedssage auf deutschem Boden und machte sie trotz ihres späten Datums zur Grundlage seiner Deutung der Siegfriedsage als einer Komposition aus bekannten Märchentypen, insbesondere dem Bärensohnmotiv (d.h. AT301), allerdings weicht die Erzählung in vielem stark ab (so fehlt etwa die Figur der Brünhild), weshalb dies eher kritisch aufgenommen wurde. Panzer argumentiert anhand der Bezeichnung Siegfrieds als "hürnen" (die sich so im Nibelungenlied nicht findet) für die Existenz dieses Stoffes seit dem 12.-13.Jh., und in der Tat finden sich deutliche Übereinstimmungen mit der Darstellung in der Thidrekssaga, jedoch bedeutet dies wenig für die Authentizität der Textgestalt. Unbestritten ist eine hohe Ähnlichkeit des Hürnen Seyfrid mit Märchenmotiven, kontrovers ist jedoch, ob diese zum ursprünglichen Gehalt der Siegfriedssage zählten oder erst seit dem 12.Jh. eingeflossen sind. Diese Diskussion betrifft jedoch die Frage der Datierung von Vorstufen von AT301 im germanischen Raum, um die es hier hauptsächlich geht, nur am Rande, denn auch die Deutung als sekundäre Ergänzungen setzt die allgemeine Verbreitung der märchenhaften Aspekte im Hochmittelalter voraus.
Das Lied vom Hürnen Seyfrid ist digital in einer Fassung der 1530er Jahre und deren neuhochdeutscher Überarbeitung nach Pannier (1913) verfügbar. Die folgende Gliederung ist wieder an die der Thidrekssaga angelehnt, auf die einzelnen Strophen wird mit Str.XYZ Bezug genommen.

1. Seyfrids Geburt und Jugend
Seyfrid war Sohn von Sigmund, König der Niderlande (Str.1), jedoch stark, grob und halsstarrig, so dass es seine Eltern verdroß (Str.2), die ihn auf Anraten der königlichen Räte schließlich ziehen ließen (Str.3).
2. Seyfrid als Schmiedeknecht
Seyfrid kam zu einem Schmied und dient sich als zweiter Schmiedeknecht an (Str.4), doch zerschlug er Eisen und Amboss und mißhandelte Knecht und Meister (Str.5).
3. Seyfrid erschlägt den Drachen
Der Meister schickt ihn zu einer Linde, wo ihm ein Köhler Kohle bringen sollte. Bei dieser Linde lag ein großer Drache (Str.6), der Seyfrid töten solle, doch besiegt wurde. Er suchte den Köhler im Tann (Str.7), kam jedoch in ein Tal voller Lindwürme, Kröten und Ottern, die er mit ausgerissenen Bäumen (Str.8) erschlug. Der Köhler gab ihm Feuer und er verbrennt das Gewürm (Str.9), so dass sie schmelzen. Seyfrid steckte einen Finger in den Schmelz, worauf dieser wie Horn wurde, darauf badet er darin (Str.10), jedoch blieb er zwischen den Schultern ungeschützt (Str.11).
4. Seyfrid gewinnt den Niblungenhort
Der Zwerg Niblung hielt einen Schatz verschlossen an einer Felsenwand (Str.13), nach seinem Tod verteidigten seine drei Söhne den Berg (Str.14), so dass niemand entrann außer Dietrich von Bern und Hildebrand (Str.15).
5. Seyfrid kommt zu Gibich

In Wurms (Worms) am Reyne (Rhein) herrscht König Gibich (= Gjuki) mit seinen drei Söhnen (Str.16). Nach dem Hortgewinn zog Seyfried zu Gibich (Str.11) und diente um dessen Tochter (Str.12).
Soweit der erste Teil des Hürnen Seyfrid. Ab Str.16 beginnt eine Parallelerzählung, bei der Seyfrid in Str. 33 neu eingeführt wird. Anders als im ersten Teil kennt er jedoch seine Eltern nicht. Auch dient er nicht um Kriemhild bei Gibich, sondern befreit sie. Diese Erzählung ähnelt darin den Drachentötermärchen nach AT301. Die Gliederung folgt wieder der der Thidrekssaga, die Darstellung im zweiten Teil der HS beginnt jedoch mit der von Gibich und der Entführung seiner Tochter.
3.a Ein Drache entführt Kriemhild
In Wurms (Worms) am Reyne (Rhein) herrscht König Gibich (= Gjuki) mit seinen drei Söhnen und seiner Tochter (Str.16) Kriemhild (Str.51). Sie saß am offenen Fenster als ein Drache sie raubt (Str.17-18), er trug sie auf einen hohen Berg, sorgte für sie (Str.19) für vier Jahre (Str.20) und legte den Kopf in ihren Schoß (Str.21). Er ist jedoch eigentlich ein Mensch (Str.22) und nur von einem Weib verflucht (Str.125), verwandelt sich Ostern (Str.22) und würde nach weiteren 5 Jahren erlöst, indem er ihr das magthumb nimmt (Str.26) und sie in die Hölle fährt (Str.27). Gibich lässt seine Tochter suchen (Str.32).
1. Seyfrids Geburt
Seyfrid war Sohn von König Sigmund und seiner Frau Siglinge (Siglinde) (Str. 48), kannte jedoch seine Eltern nicht, sondern war früh in den Wald geschickt worden (Str.47).
2.a Seyfrids Jugend
Ausgesetzt im Wald, zog ihn ein Meister auf (Str.47). Er gewann große Stärke, so dass er Löwen zum Spaß an die Bäume hing (Str.32). Seyfrid hatte bereits einen Wurm erschlagen und 5000 Zwerge von ihm befreit, so dass sie ihm bereitwillig ihr Gut haben (Str.38).
2.b Der Zwerg Eugel
Auf der Jagd findet Seyfrid die Spur des Drachen (Str.34), der er ins Gebirge folgt (Str.35) bis zum Drachenstein (Str.39), es wird dunkel (Str.41) und er will aufbrechen, als der Zwerg Eugel auf ihn zugeritten kommt (Str.42), ihm die Namen seiner Eltern kundtut (Str.48), vor dem Drachen warnt (Str.49), jedoch auch von Kriemhild (Krimhilt, hier erstmals genannt) und ihrer Geschichte berichtet (Str.49). Seyfrid kennt sie, sie seien einander in ihres Vaters Land hold gewesen (Str.51). Eugel rät von ihrer Befreiung ab (Str.53), doch wird von Seyfrid dadurch zur Mithilfe gezwungen, dass er ihn beim Schopfe nimmt und gegen die Felswand schlägt (Str.57). Eugel weist ihm den Weg (Str.58) zum Riesen Kuperan, der den Schlüssel zum Berg besitzt (Str.59).
2.c Seyfrid besiegt Kuperan
Eugel weist den Weg zum Eingang in des Riesen Haus (den Berg?) (Str.61), der ungetreue Kuperan springt mit einer Eisenstange in der Hand heraus (Str.62) und Seyfrid verlangt die Hand der Jungfrau (Str.63), Kuperan bewaffnet sich mit einer Brünne gut wie die Ortnits (Str.70) und verteidigt die Jungfrau (Str. 77), unterliegt jedoch, so dass Seyfrid Brünne und Schwert (Str.82) sowie Kuperans Hilfe gegen den Drachen gewinnt (Str.83). Kuperan greift ihn jedoch hinterrücks an (Str.88), so dass Eugel ihn mit der Nebelkappe retten muss (Str.89).
4. Seyfrid erschlägt Kuperan
Kuperan öffnet den Drachenstein an einer unterirdischen Tür (Str.99), sie begrüßt Seyfrid mit seinem Namen, der Drache ist nicht da (Str.102). Kuperan gibt ihm das verborgene Schwert, das den Drachen töten kann (Str.107), greift ihn jedoch wieder an (Str.108) und Seyfrid wirft ihn vom Stein (Str.114). Die Jungfrau pflegt Seyfrid, Eugel bringt Nahrung (Str.119).
3. Seyfrid erschlägt den Drachen
Der Feuerdrache kommt geflogen (Str.123). Zwei Brüder Eugels, die Söhne Niblungs, rauben derweil den Schatz, den sie hier hüteten (Str.134), wo ihn Seyfrid tief unten im Steine findet (Str.135). Der Drache verfolgt Seyfrid und Kriemhild mit 60 Jungen (Str.141). Seyfrid vertreibt die Jungen (Str.143) und schlägt dem Drachen das Horn, bis es schmilzt (Str.147).
5. Erweckung Kriemhilds und Erlösung Eugels
Eugel erweckt das Mädchen, das durch die Hitze ohnmächtig geworden ist (Str.152), sie küßt Seyfrid (Str.153). Eugel und die tausend Zwerge, einschließlich Eugels Brüdern, die Söhne Niblungs, wollen Seyfrid dienen. Eugel weist ihm den Weg nach Worms, die Zwerge bleiben zurück (Str.154-159). Eugel prophezeit die Zukunft (Str.161-163). Seyfrid kehrt zurück, um den Hort zu holen (Str.164), wirft ihn ob des kommenden Untergangs aber in den Rhein (Str.167).
6. Seyfrid heiratet Kriemhild
Gibich empfängt das Paar (Str.170) und sie heiraten (Str.171-173).
9. Tod Seyfrids
Nach 8 Jahren wird Seyfrid ermordet (Str.161). Günther (Gunther), Hagen und Gernot beneiden Seyfrid und stoßen sich an seinem Auftreten (Str.173-176), Hagen ersticht ihn über einer Quelle zwischen die Schultern, als er trinkt, nachdem sie um die Wette gelaufen sind (Str.177-178).
10. Kriemhilds Rache
Kriemhild rächt Seyfrieds Tod (Str.162) und wird selbst im Kampf getötet (Str.163).
Seyfrids Jugend und sein Auszug gegen den Willen der Eltern im ersten Teil ähnelt dem Nibelungenlied, seine Schmiedelehre und die Drachentötung bis hin zum Daumenlutschen der Thidrekssaga. Der Zwerg Niblung scheint wieder aus dem Nibelungenlied genommen, die Andeutung auf Dietrich von Bern und Hildebrand beim Hortgewinn könnte sich auf die Hildrigrim-Episode beziehen, bleibt aber letztlich unklar.
Im zweiten Teil ist der Jungfrauenraub durch den Drachen sonst unbelegt, entspricht aber dem Märchen. Wie in der nordischen Überlieferung ist der Drache eigentlich ein verwandelter Mann. Da Brünhild fehlt, wird die zu befreiende Jungfrau mit Kriemhild identifiziert, was wohl sekundär ist. Zu Brünhild stimmt eventuell, dass Seyfrid in Str. 51 behauptet, Kriemhild sei ihm in ihres Vaters Land hold gewesen, was er in den sonstigen Siegfriedssagen von Brünhild sagt, jedoch kann dies eine inhaltliche Brücke zum ersten Teil sein, wo gesagt wurde, dass Seyfrid um Gibichs Tochter diente (Str.12).
Der Zwerg Eugel scheint eine Doublette der Niblung-Episode, jedoch auch das Nibelungenlied kennt neben Nibelung und seinen Söhnen Alberich als den Hüter des Hortes. Tatsächlich ist er laut Str.134 ebenfalls ein Sohne Niblungs. In seiner Rolle ähnelt er jedoch Mimir aus der Thidrekssaga, der ebenfalls Sigurd den Weg zu Brynhild weist. Er scheint mit diesem jedoch nicht identisch, denn Seyfrid wird im zweiten Teil des HS von einem ungenannten Meister im Wald aufgezogen (Str.47). Str. 38 scheint eine weitere Doublette des Drachentötung unter Mitwirkung von Zwergen, die an ihrem Ort aber kontextuell nicht passt.
Der helfende Riese Kuperan erinnert einerseits selbst an den jungfrauenbesitzenden Riesen (zu denen vielleicht auch Heimir in der VS zu zählen ist), andererseits aber auch an die wilden Männer, die Huon und Ortnit begleiten. Wie Mimir in der ThS verriet er Seyfrid jedoch und ist damit vielleicht als Entsprechung der treulosen Gefährten anzusehen. Auch Siegfried muss im NL gegen einen Riesen kämpfen, als er in Av.8 (auf der Rückreise von Island nach Worms) Alberichs Treue testet. Die Erweckung Kriemhilds habe ich hier mit der Erweckung Brynhilds beim ersten Besuch Sigurds in der Völsungensaga verglichen, ist jedoch im HS nur ein Nebenbermerkung und steht in einem anderen Kontext, allerdings chronologisch richtig nach dem Tod des Drachens. Das Feuerinferno, dass der Drache vor seinem Tod entfacht, könnte mit der Waberlohe um Brynhilds Burg verglichen werden.
Die Schatzversenkung durch Seyfrid erscheint widersinnig, auch die folgende Strophe (Str.168) wirkt deplaziert. Seyfrids Tod wird nur kurz berichtet, Kriemhilds Rache nur im Vorausblick. Diese waren nach der letzten Strophe wohl Gegenstand eines eigenen Liedes.

10. Seifrid de Ardemont

Seifrid de Ardemont ist ein Gawanidenroman aus dem von Ulrich Füetrer kompilierten Buch der Abenteuer (um 1480), der eine Variante der Siegfriedssage in den Kontext von Artus und der Tafelrunde versetzt. Füetrer gibt Albrecht von Scharfenberg als Autor an, wodurch eine Vorlage aus dem späten 13.Jh. möglich erscheint. Die Darstellung hier folgt der Zusammenfassung bei Panzer (1902, S.LXIIff), die Numerierung verweist auf Parallelen zu den obigen Abschnitten der Thidrekssaga bzw. des Hürnen Seyfried, mit dem der Text in seiner Zeitstellung gut vergleichbar ist.
1. Seifrids Eltern
Gundrie gebiert Herzog Lytschois einen Sohn Seifrid, der in Zucht und Sitte heranwächst (Str.1-10). Seine Eltern verweigern ihm die Ausfahrt an Artus' Hof, so dass Seifrid heimlich auszieht. (Str.11-16).
2-5. Erste Jungfrauenrettung
Trifft im Gebirge einen Drachen, ein Zwerg versucht ihn von seiner Höhle aus zu warnen, besiegt den Drachen, stürzt jedoch ohnmächtig nieder und wird vom Zwerg wieder zum Leben erweckt (Str.17-26).
Der Zwerg warnt Seifrid vor dem Riesen Amphigulor, erzählt von den vier Jungfrauen, die der Riese hütet und stattet ihn mit Schild und Schwert aus. Seifrid weicht den Hieben seiner Stange aus, tötet ihn. Der Zwerg lehrt ihn, wie er den Zauberring um die Jungfrauen brechen kann und er befreit sie. Nach der Tötung von Drachen und Riesen sind auch die Zwerge befreit, ihr Herr Lorandin führt den Helden und seine Frauen bis vor Karidol und versichert seine Bereitwilligkeit, ihm in allen Nöten beizustehen (Str.27-49). Die Jungfrauen begleiten ihn zu Artus' Hof zu seiner Schwertleite und werden von dort heimgeführt (Str.50-78).
2-5. Zweite und dritte Jungfrauenrettung, weitere Rettungen
Seifrid rettet weitere Jungfrauen, die Botin Condiflors (B, Str.91-146) sowie Condiflor selbst (C, Str.147-201), später in eingestreuten Nebenhandlungen die Ritter Anziflor (A, Str. 202-259) und Joseran (J, Str. 334-350). Diese Darstellungen sind weitgehend der ersten Jungfrauenrettung nachgebildet:
  1. Seifrid erschlägt einen menschenraubenden Unhold (B: Riese und dessen Frau, C: Wurm, A: Wurm, Wildes Weib und Drachenjungen, J: zwei Riesen) 
  2. Seifrid wird auf einen weiteren Unhold hingewiesen (B,A) bzw. erhält von diesem ein Schwert (C). Dies geschieht durch seinen Wirt (B), den vom Wurm erretteten Wilden Mann (C), die Braut des erretteten Ritters (A) oder einen Zwerg (A). [fehlt in J]
  3. Seifrid erschlägt den zweiten frauenraubenden Unhold (B: Söhne des Riesen, C: heidnischer Freier, A: Räuber Schandamaur, J: Mutter der Riesen) und befreit 300 Jungfrauen (B), die Prinzessin (C), Ritter Anziflor und seine Frau (A), Fürst Joseran und dessen Frau (J).
  4. Die Geretteten bieten sich Seifrid an (C: Prinzessin), begleiten ihn an Artus' Hof (A, C: Graf Waldin) oder verkünden Seifrids Lob dort (B,J).
Größeren Raum in der Gesamterzählung nimmt nur C ein (Str.79-201), nach seinem Sieg gewinnt Seifrid den dortigen Grafen Waldin als ständigen Begleiter (Str.202-414), bei ihrer Rückkehr ist Condiflor aus Liebeskummer gestorben (Str.351-357), so dass Seifrid Waldin als Vogt einsetzt (Str.412-414), der ihn bis dahin begleitet hat.
2. Seifrid und Waldin werden zur brennenden Heide gewiesen
Ihr Wirt warnt Seifrid und Waldin vor einer brennenden Heide, auf der eine Schlange liegt (Str.260-273).
3. Die Schlange auf der brennenden Heide
Sie erlösen die Schlange, sich in eine Frau verwandelt, ihnen dankt, stirbt und als Taube aufsteigt (Str.274-284).
5. Die Jungfrau im Dornenhag
Am Wege liegen eine wertvolle Schapel, ein Halsband und ein Mantel, die Helden lassen diese jedoch unberührt (Str.285-294) und nähern sich einem unmässig hohen Berg, umgeben von einem Dornenhag, um den Schlangen und Drachen wimmeln. Oben residiert die Jungfrau Mundirosa mit Gefolge, Seifrid mit seinem Namen begrüßt, seine Taten kennt und ihm verkündet, er würde sie nach drei Tagen für ein Jahr verlassen und sie auf Dauer verlieren, wenn er vor Ablauf eines Jahres ihre Schönheit rühmt. Sie ist von jenseits des Meeres gekommen, weil ihr Astrologen geweissagt hätten, sie würde hier Seifrid treffen (Str.295-333).
6. Verlust der Jungfrau
Auf einem Turnier um die Zuneigung einer überaus schönen Jungfrau verstößt Seifrid gegen die Auflage, die Schönheit seiner Angebeteten nicht loben zu dürfen, worauf diese sich noch einmal zeigt und verschwindet, jedoch die drei Kleinodien zurücklässt. Er lehnt die Hand der angebotenen Königstochter ab und zieht ab (Str.358-411).
Greifenflug
Seifrid kehrt zum Berg zurück und will sich in das (nahebei liegende) Wasser werfen, als ihm ein Einsiedler belehrt, ein Greif komme regelmäßig hierher, um Wild zu holen. Der Einsiedler näht ihn in eine Pferdehaut ein und der Greif trägt ihn zu seinen Jungen ins Nest auf der anderen Seite des Meeres (Str.415-417).
Kampf gegen die Freier
Seifrid befreit sich und begegnet dem Wilden Mann Althesor, der ihm seine Unterstützung anbietet. Da Mundirosa zwar einen Gatten gefunden, jedoch verloren habe, beansprucht Graf Girot ihre Hand und den Thron. Durch die Kleinodien legitimiert, findet Seifrid Unterstützung (Str. 438-464), besiegt ihn im Turnier, geht jedoch unerkannt (Str. 465-483), das wiederholt sich in einem weiteren Turnier (Str. 484-495).
Erkennung und Wiedervereinigung
Die Fürstin will in ein Kloster gehen und veranstaltet einen Tanz zum Anschied. Seifrid, in schlechten Kleidern in der Dienerschaft, kleidet sich um und zieht mit den drei Kleinodien ein, wird erkannt, gekrönt und verheiratet (Str. 496-519).
Die Namen sind (jenseits Seifrids) völlig abweichend von der sonstigen Überlieferung, was eventuell aber nur auf einen Modernisierungsversuch hindeutet. Der Widerstand der Eltern gegen den Auszug Seifrids entspricht dem Nibelungenlied, allerdings mit Artus' Hof als Ziel. Der Kampf mit dem Riesen Amphigulor (der mit einer Stange kämpft, so jedoch auch der Riese Widolf in Osantrix' Brautfahrt in der Thidrekssaga) hat Ähnlichkeit mit dem gegen Kuperan. Der Kampf gegen Paare von Unholden erinnert an den Gewinn des Hildigrin, findet sich so aber auch im Beowulf. Die Kämpfe sind schematisch, wie oben angedeutet, Kern der Handlung ist Mundirosa.
Das Schema der 5 Kämpfe ist dem HS ähnlich, es gibt einen helfenden/warnenden Zwerg (2x) bzw. wilden Mann (1x), von dem er zum zweiten Kampf sein Schwert erhält (2x), in Umkehrung zur HS ist jedoch meist der erste Unhold ein Drache (4x) und der zweite ein Riese (3x, oder Mensch 2x). Dies ist insofern ein interessantes Detail, als es zu den nordischen Sagen stimmt: Erst nachdem Sigurd den Drachen überwunden hat, befreit er Brynhild (ThS,VS), die in der Gewalt eines Riesen steht (so angedeutet im HS, so die Rolle von Heimir in der VS -- falls man die Charakterisierung Heimirs aus der ThS [obgleich diese ihn auch mit einem Wurm vergleicht] so deuten mag). In ThS und VS mögen dabei dem Schmied Aspekte dieser Rolle zugefallen sein und so erklären, wieso er von Sigurd trotz Buße erschlagen wird. Wie im HS sind nach dem Tod von Drachen und Riesen die Zwerge befreit und ihr Fürst gelobt Unterstützung (erster Drachenkampf). Genretypisch ist das Lob des Helden durch den Geretteten an Artus' Hof. Genretypisch ist womöglich auch die Zahl, denn zu diesen fünf Doppelkämpfen sind noch der Kampf gegen die Schlange auf der brennenden Heide und der gegen die Freier zu zählen, wodurch sich das Muster eines typischen Reihenkampfes mit 12 Einzelkämpfen (auch etwa im Rosengarten zu Worms) abzeichnet.
Nach Panzer (1903, S. XC) markiert die brennende Heide den Eintritt in die Unterwelt, und kann gut mit Brynhilds Waberlohe verglichen werden, ist aufgrund der Nähe der Schlange jedoch auch gut mit den brennenden Bäumen der ThS oder dem Flammeninferno des HS vergleichbar. Der von Schlangen umgebene Dornenhag erinnert ebenfalls an Brynhild, wie auch ihre Prophezeihung der Zukunft (wenn diese hier auch eher als Gebot erscheint).
Der Verlust der Mundirosas besitzt keine Entsprechung in der Sigurdsage und ersetzt hier dessen Eidbruch durch ein Motiv aus AT400 (von Panzer mit AT425B zu "Die gestörte Mahrtenehe" zusammengefasst), dem die Handlung im weiteren folgt. Der Verlust der Jungfrau entspricht zwar dem Märchen, erinnert jedoch insofern an die Sigurdsage, als dass auch hier eine zweite schöne Frau involviert ist, die ihm als Braut angeboten wird (was er jedoch ablehnt).
Interessant ist nun der Greifenflug, weil er chronologisch nach den repetitiven Drachenkämpfen und der Begegnung mit der Jungfrau und vor den Kämpfen mit deren Freiern und der Hochzeit steht und damit genau dem Vogelflug in AT301 entspricht. Obwohl bei einem so späten und literarischen, nicht volkstümlichen, Text nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Motiv des Greifenflugs sekundär eingefügt wurde (wie vielleicht in der Geschichte von Hagen und Hilde im Kudrunlied in Anlehnung an Herzog Ernst -- und tatsächlich stimmt das Detail des Einnähens in diese Richtung), stellt diese Parallele mit der Überlieferung des Märchens einen der sehr wenigen unmittelbaren Vergleichsstoffe für die gesuchte Sequenz von schlangenartigen und raubvogelartigen Tieren bei der Unterweltsreise dar.
Der Kampf gegen die Freier und die Erkennung durch Kleinodien entspricht der Darstellung bei Wolfdietrich und Thidrek wie auch AT301, ist jedoch auch darüber hinaus verbreitet und findet sich ähnlich schon in der Odyssee, sonst jedoch nicht in Verbindung mit Siegfried. Dies spricht klar dagegen, in diesen märchenhaften Details einen originären Bestandteil der Siegfriedssage erkennen zu wollen, wie sie in das Nibelungenlied eingegangen ist. Nicht völlig auszuschließen ist aber, dass diese Erzählung das späte und verzerrte Echo einer Siegfriedssage aus der Zeit vor ihrer Einfügung in den Zusammenhang des Burgundenuntergangs darstellt. Der Name Seifrid-Siegfried zumindest besitzt kein klares historisches Vorbild (sofern man nicht den sprachlich nur im Anlaut passenden Sigibert, den ermordeten Gemahl Brunichilds, heranziehen möchte) und könnte selbst auch einer eher märchenhaften-mythologischen Tradition stammen. Andererseits ist Siegfried durch die Wirkung der Siegfriedsage hinreichend populär, um weiteren Heldenfiguren den Namen zu leihen, die in keinem erkennbaren Zusammenhang stehen (auch im Kudrunlied).

11. Hagen und Hilde im Kudrunlied

Das Kudrunlied ist neben dem Nibelungenlied das zweite große Heldenepos der mittelalterlichen deutschen Literatur. Um 1230/40 im oberdeutschen Sprachraum entstanden, ist es im Ambraser Heldenbuch (um 1510) sowie in Fragmenten seit dem 14.Jh. erhalten. Es beruht zum Teil auf älteren Quellen, allerdings gilt die uns hier interessierende einleitende Beschreibung von Hagens Jugend bis zu dessen Schwertleite Hagens als „freie Erfindung“ des Kudrun-Autors, während seine Tochter Gegenstand der besser belegten Hilde-Tradition ist. Die germanistische Forschung sieht in der Kudrun gemeinhin einen Gegenentwurf zum Nibelungenlied, die Idee von der Kudrun als „Anti-Nibelungenlied“ wird von parallelen Motiven, ähnlich angelegten Figuren bzw. Figurenkonstellationen der beiden Epen unterstützt (Wikipedia), es ist insofern ein in jeder Hinsicht literarisches Werk. Das folgende ist gekürzt nach Pischon (1838, S.131-132), Zwischenüberschriften von mir.
1. Herkunft und Raub Hagens
König Siegebant von Eyerland, vermählt sich mit der norwegischen Fürstin Ute und hat mit ihr einen Sohn, Hagen genannt. Bei einem Fest, als alles einem fahrenden Spielmann zuhört, bleibt eine Magd mit dem Kind allein. Da kommt ein gewaltiger Greif geflogen, vor dem die Magd flieht und das Kind zurücklässt, das der Greif weit über das Meer in sein Nest seinen jungen Greifen bringt, welche darüber kämpfen.
2. Befreiung der Jungfrauen
Eines der Jungen fällt mit dem Kind zu Boden, das entflieht und zu drei Königstöchtern kommt, welche auch von den Greifen entführt worden sind. Sie leben in einem Stein, nähren sich von Kräutern und pflegen das Kind. Von gekenterten Schiffen eines Kreuzzugs erhält der junge Hagen Waffen, und als der Greif die Toten holen will und auch ihn ergreifen will, erlegt er ihn und alle seine Jungen. Die Jungfrauen können den Stein verlassen.
3. Hagen tötet den Gabilûn
Hagen lernt schießen und jagen. Er erlegt ein Tier, einem Gabilûn (Drachen?) ähnlich. Er trinkt dessen Blut, wird dadurch unmäßig stark. Die Jungfrauen werden durch Genuß des Tieres schön und liebreizend.
4. Rückkehr und Heirat
Sie werden von einem Schiff aufgenommen und eingekleidet, jedoch vom Grafen von Garadie als Gefangene gehalten, da Hagen der Sohn seines Feindes Sigebant sei. Hagen zwingt die Schiffer, ihn nach Hause zu führen, seine Mutter erkennt ihn an einem Kreuz an der Brust als ihren Sohn, er wächst weiter auf und heiratet eine der Jungfrauen, Hilde von Indien, mit der eine Tochter gleichen Namens zeugt, der der erste Teil des Kudrunliedes gewidmet ist.
Gabilûn ist meines Wissens ein Hapax, die Beschreibung ist jedoch klar an Siegfried und das Essen des Drachenherzens angelehnt, weshalb man wohl an einen Drachen zu denken hat. Soweit ich weiß, ist sonst nicht belegt, dass Greifen Jungfrauen entführen, und das ist dann vielleicht als eine bewusste Verfremdung eines sonst sehr weit verbreiteten Motivs anzusehen, in dem der Greif den eigentlich hierher gehörigen Drachen ersetzt. In jedem Fall ist in der vorliegenden Konzeption der Greifenflug vor der Begegnung mit dem Drachen angesetzt. Dies mag in einem konzipierten (im Gegensatz zu einem historisch gewachsenen) Stoff wie der Einleitung zum Kudrunlied wenig über volkstümliche Vorstellungen der damaligen Zeit aussagen, bestätigt aber, dass Greifenflug grundsätzlich vorstellbar war und in Zusammenhang mit Drachentötung gebracht werden konnte, sich also in ähnlichen Sphären abspielte. Die im Vergleich zum Seifrid von Ardemont umgekehrte Anordnung von Greif und Drache relativiert jedoch dessen Aussagekraft für die Kontinuität der Drachen-Greif-Sequenz für AT301 bzw. dessen frühe Vorläufer im germanischen Raum.

Referenzen
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