Dienstag, 2. Dezember 2014

Märchen und Archäologie I: Korpusstudie


Mein Blogpost zur Ikonographie bronzezeitlicher Rasiermesser aus Dänemark führte ja im wesentlichen zu dem Ergebnis, dass das von Flemming Kaul vorgeschlagene Modell einer Sonnenreise grundsätzlich plausibel und einleuchtend erscheint, jedoch ohne extrinsische Evaluation in seinen Details in weiten Teilen als spekulativ angesprochen werden muss. Eine solche extrinsische Evaluation soll hier in Grundzügen skizziert werden.

1. Möglichkeiten zur extrinsischen Evaluation

Kaul (1998) selbst ist sich des Problems durchaus bewusst und skizziert Möglichkeiten einer solchen Evaluation durch Erweiterung des geographischen Raumes (§12.2) sowie Vergleich mit zentraleuropäischen (§12.3), italienischen (§12.4) und ägyptischen Befunden (§12.5). Obwohl er zu Recht Ansätze ablehnt, Glaubensvorstellungen späterer Zeit (v.a. der Edda) oder anderer kultureller Sphären (etwa des bronzezeitlichen Syriens oder Ägyptens) zur Grundlage einer Interpretation der Ikonographie der nordischen Bronzezeit zu machen (§2.1), sind diese für die Evaluation eines unabhängig formulierten Modells durchaus geeignet. Kritische Detailstudien lassen hier allerdings eher Skepsis vermuten. Bezogen auf eddische Überlieferungen schließt Schier (1992, nach Kaul 1998, S.12) "... so scheint es (...) kaum möglich zu sein, direkte Zusammenhänge zwischen Felsbildern und späteren germanischen Göttervorstellungen nachzuweisen." Unter Bezug auf Fett & Fett (1941, S.14) spekuliert Kaul (S.12) "... that some folk-tales might be able to present a better picture or idea of Bronze-Age mythic scenarios than can the codified Viking-Age mythology". Dies nun ist eine perfekte Motivation für den Einsatz quantitativer computer- und korpuslinguistischer Verfahren zur Prüfung einer solchen Hypothese.

2. Extrinsische Evaluation: Märchen

Das (Volks-)Märchen gilt als eine sehr alte Gattung mündlicher Literatur und ist wesentlich charakterisiert als Prosatext (im Gegensatz zum Lied) ohne Bezug an historische oder geographische Gegebenheiten (im Gegensatz zu Sage und Legende) oder aus einem größeren Überlieferungskontext heraus identifizierbare Akteure (im Gegensatz zu Sage, mündlichem Epos oder Mythos), meist unter Einbeziehung phantastischer Elemente.
Das Märchen kann dabei durchaus unterschiedlich interpretiert werden, u.a. als didaktisches Instrument, psychologisches Chiffre oder als Träger einer verschütteten mythologischen Bedeutung. Diese Sichtweisen müssen einander dabei durchaus nicht ausschließen. Gehen wir etwa von einer "Erfindung" des Märchens aus didaktischen Gründen aus, stellt sich oftmals die Frage nach dem Ursprung von Märchen ohne identifizierbare ethische Aussage. Gehen wir allein von psychologischen Motivationen aus, überrascht (v.a. im Vergleich zum Kunstmärchen) die Variantenarmut des Märchens, die sich auf wenige tausend Sujets reduzieren lässt, die oftmals noch geographische Verteilungsschwerpunkte besitzen. Als ausschließlicher Träger einer verschütteten mythologischen Bedeutung schließlich wäre das Märchen nicht überlebensfähig gewesen, ohne auch eine anderweitige soziale oder kulturelle Funktion zu erfüllen. Ich werde hier in Anschluss an die geographisch-historische Methode versuchen, mit empirischen Kriterien eventuelle Parallelen zwischen Kauls Modell und modernen Volksmärchen zu überprüfen. Damit sei allerdings keineswegs unterstellt, dass moderne Märchen (oder deren prähistorische Vorläufer) unmittelbar bronzezeitliche Mythologie reflektieren. Obwohl das nicht vollständig auszuschließen ist, konzentriere ich mich auf wesentlich grundlegendere Überlieferungsbestandteile, nämlich die zugrundeliegenden kosmologischen Konzepte.
Die grundlegende Annahme dabei ist, dass jede komplexe Mythologie letztlich auf elementaren Modellvorstellungen und Prototypen aufbaut, die in unterschiedlicher Weise verbunden, ausgestaltet und umgedeutet werden, um bestimmten ideologischen, politisch-soziologischen oder ökologischen Realitäten Rechnung zu tragen, bis zu einer unmittelbaren Konfrontation mit damit unvereinbaren anderslautenden Modellvorstellungen oder Beobachtungen weitgehend unhinterfragt bleiben. Solange die Erdkrümmung nicht systematisch beobachtet wurde, war etwa das tripartite Weltbild, die Vorstellung der Erde als einer Scheibe, die zwischen Oberwelt(en) und Unterwelt(en) liegt, nahezu universell verbreitet und lässt sich durchaus auch in modernen Märchen unabhängig von religiösen Vorstellungen beobachten. Zaubermärchen, die Unterweltsreisen beschreiben, sind daher nur ein gängiges und weit verbreitetes Motiv, ihre Handlung steht jedoch oft unverbunden neben christlichen oder islamischen Konzepten von Hölle und Verdammnis und ist daher nicht aus diesen heraus motivierbar. Die Schlussfolgerung, dass sie vorchristliche (bzw. vorislamische) kosmologische Vorstellungen bewahren, ist naheliegend, wobei allerdings der geographische Ursprung einzelner Sujets, ihre Verbreitungswege und ihre chronologische Tiefe nur durch detaillierte Verbreitungsstudien geklärt werden können.

3. Hypothese und Experiment

Eines der Probleme von Kauls Rekonstruktion ist, dass die detailliert spezifizierte Rolle und Reihenfolge der Tiere, die er mit unterschiedlichen Phasen der Sonnenreise (siehe Abschnitt 3 hier) assoziiert, nicht quantitativ erhärtet werden kann, sondern nur auf Einzelbeobachtungen basiert. Ziel des Experiments ist daher, nachzuweisen, ob Märchen, die Reisen in die Anderswelt beschreiben, ähnliche Verteilungen von Tieren haben, wie von Kaul prognostiziert. Dabei sei nicht unterstellt, dass diese Märchen die Unterweltsreise der Sonne beschreiben (wie von Kaul für die dänischen Bronzen vorausgesetzt), sondern lediglich, dass Übertritt und Aufenthalt in der Unter- oder Oberwelt Begegnungen mit bestimmten Akteuren mit sich bringen -- unabhängig davon, ob es sich bei dem "Passagier" um eine Totenseele, die Sonne, einen Gott, einen mythischen Helden oder einen Märchenprinzen handelt. Letztlich geht es also um die Assoziation von Tieren mit bestimmten kosmologischen Sphären. Diese Vorstellungen beruhen dabei nicht auf unmittelbarer Beobachtung, so dass hier große kulturelle Unterschiede zu erwarten sind.
Versetzen wir uns in die Position des menschlichen Erzählers, dann würden wir erwarten, dass der bronzezeitliche "Sonnenmythos", insbesondere, wenn er im Märchen auf menschliche Protagonisten übertragen wird, aus einer menschlichen Perspektive heraus erzählt wird, d.h., ausgehend von einer Sphäre, in der der Mensch sich aufhält (die Welt). Bezogen auf Kauls Sonnenkreislauf bedeutet das, dass wir für eine Unterweltsfahrt folgende Reihenfolge(n) erwarten:
  • Schlange (abend/nacht) > Fisch (nacht) > Raubvogel (morgen) (> Sonnenpferd (mittag))
Das Pferd würden wir hier (ebenso wie das Schiff) ausschließen, da es nur dann zuverlässig von einem regulären Transportmittel unterschieden werden kann, wenn es übernatürliche Attribute trägt. Insbesondere sind aber Pferde oft allgemeine Begleiter der ritterlichen Protagonisten. Als zweite Beobachtung ist festzuhalten, dass Fische im Märchen unterrepräsentiert und i.d.R. nur in Verbindung mit den "helfenden Tieren" auftreten, wo sie gleichwertig neben anderen Tieren stehen und damit wenig prominent erscheinen. Daher konzentriere ich mich auf Schlange und Raubvogel und würde voraussagen, dass, wenn es Kontinuität bronzezeitlicher Kosmologie in modernen Märchen gibt, dann auch die Schlange in Verbindung mit Abstieg in die/Aufenthalt in der Unterwelt und der Raubvogel in Verbindung mit dem Aufstieg aus der Unterwelt auftreten sollte, d.h. chronologisch die Schlange dem Raubvogel vorangeht.
Zur Prüfung dieser Ergebnisse habe ich nun ein Korpus von 15.459 deutschsprachigen Märchen aus Europa, dem Vorderen Orient und Asien erstellt, das aus verschiedenen Portalen kompiliert wurde (v.a. hekaya.de, maerchenbasar.de, chaineux.de, melosart.de, zeno.org). Aufgrund der Quellensituation ist davon auszugehen, dass hierbei zahlreiche Duplikate vorliegen, die allerdings nicht automatisch identifiziert werden können, da es sich um unabhängige Digitalisierungen handelt. Leider ist auch die Metadatenauszeichnung dieser Märchen außerordentlich uneinheitlich, so dass die Märchen nur grob nach geographischen Regionen strukturiert habe. Mich auf dänische Märchen zu beschränken, ist in diesem Zusammenhang schwierig, da die Datenmenge gering und die Kunstmärchen von Andersen überproportional vertreten sind.
In einem nächsten Schritt habe ich zunächst die Schlüsselbegriffe identifiziert, nach denen in den Märchen gesucht werden soll. Märchentypisch tritt die Schlange auch als Drache oder Lindwurm auf, und mit Hilfe einer häufigen und signifikanten Kollokation (dem Verb "schlug") habe ich in den Daten nach weiteren Synonymen gefiltert, konnte von diesen aber nur Drakos (griechisch) eindeutig hier zuordnen, da andere Unholde in vergleichbaren Rollen (Dew, Riese, Teufel, Troll, Ungeheuer, Kastschej, Zwerg) nicht notwendigerweise Schlangengestalt besitzen. Die Fahndung nach dem Raubvogel ist komplizierter. Als Prototypen habe ich den mythischen Greif und Adler verwendet, weitere mögliche Synonyme mit Hilfe des Kollokationsverbes "flog" gesucht. Aufgrund der Schnabelbiegung des bronzezeitlichen Raubvogels handelt es sich nicht um einen Raben- oder Eulenvogel, dementsprechend ergaben sich als weitere Synonyme Falke, Geier, Habicht, Sperber sowie die mythischen Vögel Simurg (urspr. persisch) und Roch/Rock (arabisch).
Für diese habe ich nun eine Substring-Suche durchgeführt (um neben Drache z.B. auch Nordlandsdrache zu finden). Für jeden Text, der Raubvogel- und Drachen-Matches enthält, habe ich nun erhoben, ob der erste Raubvogel-Match dem ersten Drachen-Match vorangeht oder umgekehrt.

Das Experiment wurde in unterschiedlichen Varianten durchgeführt. Tab. 1 gibt die Zahlen für Texte ohne Betrachtung der Überschrift und für die "vollen" Klassen von Raubvogel- (R) und Drachenartigen (D) sowie für "Adler" (A) allein und Drachenartige (D) als Klasse insgesamt.
Tab. 1: Korpusstudie



4. Zwischenbefund

Die Befunde sind leider nur für die Gesamtdaten (marginal) signifikant, für die Regionen ist die Anzahl der Belege zu niedrig. Insgesamt scheint es jedoch, dass die Reihenfolge Adler > Drache(nartiger) bzw. Raubvogel > Drache statistisch signifikant häufiger als ihre Umkehrung ist.

Was im Detail überrascht, sind die davon (wenn auch nicht signifikant) abweichenden Verteilungsmuster in Nord- und Mitteleuropa, für die eine größere Kontinuität mit der nordischen Bronzezeit zu erwarten gewesen wäre.


Mit anderen Worten: Die Korpusstudie zeigt, dass die von Kaul vorausgesagte Verteilung tatsächlich statistisch (marginal) signifikant auftritt. Damit gilt:

Eine Kontinuität zu bronzezeitlichen Vorstellungen scheint grundsätzlich möglich.


Aus diesem Grunde habe ich eine weitere Untersuchung durchgeführt, die nicht Texte auswertet, sondern auf der Sujet-Analyse der Historisch-Geographischen Methode und der in diesem Zusammenhang erhobenen Daten aufbaut. Dazu später mehr.

Wir erkennen jedoch auch, dass eine tiefere Analyse nicht nur erfolgversprechend (wir haben einen positiven Zwischenbefund!) sondern auch notwendig ist. Notwendig vor allen deshalb, weil wir nur unzureichende (bzw. zu unsaubere*) Datenmengen zur Verfügung haben, um etwas Sicheres für die Verteilung im germanischen Raum aussagen zu können, denn nur aus dieser heraus können wir auf eine mögliche Kontinuität aus der Nordischen Bronzezeit heraus schließen. Märchen, die erst im 19. oder 20. Jh. aufgezeichnet wurden, können im Prinzip auch im Gefolge der Kreuzzüge aus dem Orient gekommen sein, und dort ist das Motiv ja auch belegt ...

Anmerkungen

* Die gezielte Untersuchung zeigt gerade in Mittel- und Nordeuropa einen großen Anteil von Kunstmärchen (Hauff, Eichendorff, Tieck, Andersen) bzw. im Geist der Romantik literarisch ausgeformten Märchen (Brentano). Erstere sind für die Studie irrelevant, letztere verwenden oft allegorische Detailbeschreibungen wie "Drachen ... mit Adlersfüßen" oder "auf seinem Helm war das Bild eines Drachen", welche die Daten verfälschen.

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