In den sozialen Medien findet sich in den letzten Jahren gelegentlich die Behauptung, der Ukraine würde durch die Verwendung des Artikels das politische Existenzrecht abgesprochen und man solle doch besser "aus Ukraine" statt "aus der Ukraine" sagen, denn man sage ja auch nicht "aus dem Deutschland" sondern "aus Deutschland". Wie in den meisten Fällen dieser Art geht die politisch motivierte Sprachpflege an der linguistischen Realität aber vorbei. (Und wie in anderen Fällen ist die Debatte aus dem Englischen importiert, scheint allerdings in diesem Fall nicht wirklich zu verfangen.)
Tatsache ist, dass die meisten Staaten keinen obligatorischen Artikel tragen, aber auch, dass es eine ganze Reihe von anerkannten Staaten gibt, für die wir fast ausnahmslos den Artikel verwenden: der Irak, die Vereinigten Staaten, die Türkei, die Slowakei, die Vereinigten Arabischen Emirate, das Vereinigte Königreich, die Domenikanische Republik, oder historische Bezeichnungen wie die Tschechei (Tschechien) oder die Walachei (Rumänien). Umgekehrt werden auch Regionen, die zweifelsfrei keinen Nationalstaat darstellen (und auch nie eine selbständige staatliche Einheit bildeten), nicht automatisch mit Artikel bezeichnet. Da haben wir Rheinland-Pfalz, Flandern, Galizien -- aber daneben auch die Pfalz, die Uckermark, das Saarland.
Versuchen wir nun, einzuordnen, welche grammatischen und historischen Bedingungen zum Artikelgebrauch führen, entsteht ein Muster, das wesentlich komplexer ist als die naive Sprachregelung "Artikel für Regionen, keiner für Staaten", die hier suggeriert wird:
- Der definite Artikel ist über einen längeren Zeitraum hinweg enstanden. Wo er im modernen Deutschen fehlt, zeigt das Grammatikalisierungs- oder Lexikalisierungsprozesse an, die auf den Sprachgebrauch aus der Zeit vor der Etablierung des definiten Artikels in seiner heutigen Form zurückgehen und/oder wo die grammatische Funktion eines einfachen Substantivs nicht mehr vorliegt. Dies gilt zum Beispiel für ursprüngliche Nomen, die heute als Verbalpartikel verstanden werden, etwa das Rad in ich fahre Rad, oder für das heute adverbial verstandene ernst in es ist mir ernst. Eine dieser Funktionen ist das Fehlen des obligatorischen Artikels bei Eigennamen wie z.B. von Personen (Peter), den meisten Regionen (Rheinland-Pfalz) und Staaten (Deutschland) oder auch Zeiträumen (Weihnachten, Ostern). Der definite Artikel vor Eigennamen ist im Deutschen i.d.R. möglich (Der Peter kam gestern nach Hause), aber optional und markiert (d.h., es zeigt Sonderbedeutungen oder Emphase an). Das gilt auch für Toponyme, für die der definite Artikel dann z.B. eine deiktische oder einschränkende Funktion erfüllt oder unterstreicht, z.B. in das Berlin der 20er Jahre oder das damalige Deutschland.
- Eigennamen, die erst vor relativ junger Zeit gebildet wurden, liegt oftmals eine transparente Struktur zugrunde, deren syntaktischer oder morphologischer Kopf ein ursprünglich einfaches Nomen darstellt. In diesen Fällen kann ein Artikel obligatorisch sein, weil er der Standardgrammatik entspricht. Das gilt sicherlich für die Vereinigten Arabischen Emirate (seit 1971), das Vereinigte Königreich (seit 1801), die Vereinigten Staaten (seit 1776), in letzterem Fall übertragen auch auf die eigentlich nicht transparenten Anglizismen US oder USA -- wobei niemand in den letzten 200 Jahren (insbesondere seit 1815 nicht einmal mehr Großbritannien) den USA die Eigenstaatlichkeit würde absprechen wollen. In diese Gruppe fallen auch einige Regionen, deren Namen sich erst in relativ junger Zeit gebildet hat, wie etwa das Saarland (nach 1798, als deutsche Übersetzung von Departement Sarre). Die Ukraine ist ebenfalls ein relativ junges staatliches Gebilde (1917) und könnte demnach in diese Kategorie fallen, und dieser Gedanke ist, was einigen Sprachpflegern aufzustoßen scheint -- allerdings ist der Terminus Ukraine für Muttersprachler des Deutschen nicht transparent, weshalb das ein Trugschluss ist.
- Neutra tragen keinen Artikel, auch wenn sie morphologisch transparent sind (Island, Frankreich, Österreich, Deutschland), völlig unabhängig von ihrer historischen Eigenstaatlichkeit (Grönland, Holland, Gotland, Jütland).
- Feminina tragen einen obligatorischen Artikel, egal ob grammatisch transparent (die Domenikanische Republik) oder nicht (die Schweiz). Dies gilt für sämtliche Regions- und Landesbezeichner auf -ei (die Mongolei, die Slowakei, die Türkei, die Tschechei, die Walachei; alle f.; auch lokale Ortsbezeichner wie Holländerei f.), für andere alte Regionsbezeichner (die Uckermark f.; jedoch Dänemark n.) und auch für Lehnworte (die Kiewer Rus f.; jedoch Russland n.). In diese Gruppe fällt auch die Ukraine.
- Pluralformen tragen einen obligatorischen Artikel. Neben den jüngeren Vereinigten Arabischen Emiraten, den Vereinigten Staaten oder Inselgruppen wie den Bahamas, den Malediven oder den Seychellen beinhaltet das insbesondere die (im Deutschen) wesentlich älteren Niederlande (jedoch Holland n.).
- Maskulina tragen den definiten Artikel. Für Staaten beinhaltet das v.a. Lehnworte (der Irak m., der Iran m., der Jemen m., der Kongo m., der Sudan m., der Tschad m., der Vatikan m.; jedoch Taiwan n., Tadschikistan n. usw.). Allerdings erodiert das Muster etwas, und eine Verwendung ohne definiten Artikel gab es bereits Ende des 20.Jh z.B. für Iran, Irak und Tschad -- allerdings stets weniger häufig, vgl. die DWDS Verlaufskurven für "aus (dem) Tschad", "aus (dem) Irak" und "aus (dem) Iran". Für alte Regionsbezeichner ist der Artikel obligatorisch (der Fläming).